Wahlkampf im Geisterhauch

Christian Holl
23. März 2011
Bild: Christian Holl 

In der Hauptstadt eines relativ großen Bundeslandes macht eine in diesem Bundesland nie so ganz groß gewordene Partei Wahlkampf mit Postkarten. Die Karten zeigen Motive des Wahlkreises Stuttgart IV, manche zeigen eine Idylle, wie man sie in diesem Bundesland erwarten kann, andere sind, sagen wir einmal, spezifisch idyllisch. Man könnte von diesen Aufnahmen auch denken, dass sie im Ruhrgebiet gemacht wurden. Wahrscheinlich kein Zufall. Ist doch das Ruhrgebiet so etwas wie das Arkadien der Proletarier. Wie das andere Arkadien, das für humanistisch geprägte Akademiker, ist es ein Mythos. Es ist ein Kunstraum, ein Konstrukt. Ein Land von Solidarität und Ehrlichkeit, Authentizität und ungeschminkter Wahrheiten, es ist sogar schön, vorausgesetzt, es findet sich ein menschlicher Geist, der sich in ihm entfaltet, dann nämlich ist es, wie uns der alte SPD-Urahn Kant versichert, der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen. So weit so gut. Der Mythos wird genährt durch Botschaften, die ähnlich vorhersehbar sind wie die Botschaften des Papstes zum Schwangerschaftsabbruch. Das gilt für die einen wie die anderen, die auch ihr Arkadien haben. Arkadien 1 ist das der schönen Welt durch saubere und ungefährliche Technik, von der alles abhängt und die alles bestimmt. Deswegen braucht man Großprojekte, damit das nicht vergessen wird. Arkadien 2 ist das der Gleichberechtigung und Solidarität, wo man Hand in Hand zusammensteht, und irgendwann wird alles gut. Dieses Irgendwann ist immer in der Zukunft, damit man nicht so sehr darüber nachdenken muss, wessen Hand man gerade hält. Arkadien 3 kennt auch das Händchenhalten, aber dies eher zum Zweck von medienwirksamen Menschenketten. Manchmal sind es auch Lichterketten. Radikale Individualität und solidarische Gemeinschaft sind hier miteinander versöhnt, wahrscheinlich Kraft der Natur, aber so genau weiß das niemand.
Dumm nur, dass dieses eingeübte Spiel "Siedler von Arkadien" nun gestört wurde. Die Störung ist so radikal, traurig und böse, dass die Parteien nicht so recht wissen, wie sie reagieren sollen. Das macht diesen Wahlkampf unerträglich. Eigentlich sollte es keinen Wahlkampf geben, oder zumindest keinen, der in irgendeiner Form auf die Tragödie von Japan Bezug nimmt. Hier hat man wohl vergessen, dass Arkadien eine Kunstwelt ist, die nicht leidet, wenn man sich zur Abwechslung um die Welt kümmert, die man bewohnt und um die Menschen, die sie mit einem bewohnen. Wenn man sich zu sehr nach Arkadien sehnt, verfällt man der Illusion, dass man darin tatsächlich leben könne. Man wird dann blind für die Welt außerhalb von Arkadien und erreicht höchstens das Gegenteil von dem, was man erreichen zu wollen vorgibt. Das ist der Moment, von dem der Dichter schrieb: "Im Geisterhauch tönt's mir zurück: Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück." ch

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