Tschernobyl, Atomograd, Pripjat

Wolfgang Kil
20. April 2011
Foto: Andrej Krementschouk 
 

In der Mannheimer Galerie Zephyr sind bis Ende Juli Bilder des jungen russischen Fotografen Andrej Krementschouk aus der 30-km-Sperrzone rund um Tschernobyl zu sehen. Porträts und Alltagsszenen zeigen Menschen, die allen Verboten zum Trotz in die "Zone" zurückkehrten und dort, mittlerweile geduldet, ein archaisches Selbstversorgerleben führen. Im Kontrast dazu eine Serie großformatiger Ansichten der aufgegebenen Stadt Pripjat. Im Chaos hinterlassene Interieurs, Häuser und Straßen von trüben Winternebeln verhangen. Die Welt wieder ohne uns.
Als 1970 der Aufbau des Atomkraftwerks Tschernobyl begann, bekamen dessen Beschäftigte nahebei eine eigene Stadt. Fast 50.000 Menschen durften hier mietfrei wohnen, auch sonst ragte Pripjat, das ursprünglich Atomograd heißen sollte, über den Durchschnitt sowjetischer Industrie-Neustädte deutlich hinaus. Breite Boulevards, Hochhäuser zwischen den Plattenbauzeilen, im Zentrum ein barockes Halbrund mit Wasserspielen. Die Regale in den Läden waren voll, für Kultur und Freizeit war üppig gesorgt. Den jungen Kerntechnikerfamilien (Durchschnittsalter 26 Jahre) standen ein Kulturpalast, ein Theater, ein Kino, zwanzig Schulen und höhere Bildungseinrichtungen zur Verfügung, dazu ein Hotel, Schwimm- und Sportzentrum, zwei Stadien. Nur der Vergnügungspark fehlte noch, er sollte am 1. Mai 1986 eröffnet werden. Vier Tage vorher geschah die Katastrophe.
Wenn die einstigen Bewohner von "damals" erzählen, schwärmen sie von der blühenden Schönheit ihrer Stadt. Gepflegte Rabatten an Straßen und Plätzen – Inbegriff geordneter Verhältnisse, die sie heute vermissen. Man kann sagen, die Bewohner Pripjats waren in der Moderne angekommen. Im Dienste der strahlenden Energie waren sie der Zukunft besonders nahe. Die klaren Linien ihrer Reißbrettstadt passten dazu. Aufschwung und jähe Verdammnis der ganzen Region wurden zum Menetekel dieses Fortschrittsglaubens. Die so perfekt eingerichtete Welt fiel in albtraumhafte Erstarrung. "Eine Stadt nach einem Erdbeben schaut verwüsteter aus als die von außen wohnlich scheinenden Ruinen von Pripjat, wo der Verfall in Zeitlupe stattfindet", schreibt Juri Stscherbak, einer der wichtigsten Chronisten der Katastrophe. Mit der Stadtarchitektin hatte er noch einmal ihre alte Wirkungsstätte besucht: "Maria Prozenko, die eine Menge Kraft und Talent in die Ausgestaltung ihrer Heimatstadt eingebracht hatte, musste dann eigenhändig den Plan der Stacheldrahtabsperrungen zeichnen."
Über diesen Ort sind, wie man so sagt, alle Bücher schon geschrieben. Es gibt Dokumentationen, Filme, zwei eigene Museen (eins in Kiew, eins in Gomel/ Belarus). Krementschouk musste also zum Trauma des Orts einen eigenen Zugang finden: Er ergab sich dem Rausch der Zeichen. Weil die Evakuierung damals in großer Hast geschah und nur schmales Handgepäck in die Busse durfte, blieb unendlich viel liegen – Möbel, Hausrat, Krempel aller Art. In diesen Hinterlassenschaften ist ein intensives Zeitbild eingefroren: Die gemusterten Tapeten. Die Losungen an den Wänden. Die spartanische Sachlichkeit des Mobiliars. Auf Büchsen und Gläsern die Etiketten mit den fast vergessenen Signaturen. Fenstergitter, Parkbänke, Spielgeräte aus immer demselben Armierungsstahl. Wenn der 1973 an der Wolga geborene Fotograf von der "Zone" redet, scheut er Worte wie Kindheit und Zuhause nicht. "Man trifft da einen Teil der Vergangenheit, wo man glücklich war." So öffnet er sich (und uns) die verborgene Tür zu den Lebenswelten vor der Katastrophe. Und stellt sich damit auf die Seite derer, die für ihre Verluste keine Worte finden. Hinter der Stadt als Bild scheint eine völlig neue Erfahrung auf: die Stadt als Gefühl. Solch ungeheure Intensität findet man auf Fotografien nicht oft.
Seit 2006 werden weltweit Unterschriften gesammelt, um Pripjat unter die Obhut der UNESCO zu stellen – als ein Welterbe ewiger Mahnung. Die Chancen der Initiative stehen schlecht, solange auf internationaler Ebene Kritiker der Atomenergie keine Mehrheit bilden. Doch seit den Ereignissen in Fukushima erlangte die längst nicht mehr unbetretbare "Zone" plötzlich neue Aufmerksamkeit. Ob jene Landschaften der Klage weiterhin der verstörenden Erinnerung oder als Spielwiese eines neuerdings aufblühenden Horror-Tourismus dienen, darüber sollte nach dem 11. März 2011 die Diskussion noch einmal neu eröffnet sein. Wolfgang Kil

Zone. Heimat Tschernobyl im Zephyr – Raum für Fotografie, C4 9b, 68159 Mannheim. Bis 31. Juli 2011, tägl. außer Montag 11-18 Uhr.
Die beiden Fotobücher Andrej Krementschuk: "Chernobyl Zone" I und II erscheinen im Kehrer Verlag Heidelberg.

Foto: Andrej Krementschouk 
Foto: Andrej Krementschouk 

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