Mut zur Masse

Wolfgang Kil
30. Januar 2013
"Heimat": ein von Künstlern besetztes Hochhaus in Berlin-Hellersdorf (Dostoprimetschatjelnosti-Aktion) 

Im großen Saal der Alten Zollgarage wurde es eng am 22. Januar. An die dreihundert Zuhörer waren trotz klirrendem Winterfrost zum alten Flughafen Tempelhof gekommen, um mit den Vordenkern einer nächsten Berliner IBA über ein Thema zu diskutieren, das sich als dunkle Problemwolke über Deutschlands Großstädten zusammenbraut: Wie kommen wir wieder zu einem sozialen, das heißt überhaupt noch bezahlbaren Wohnungsbau? Unter dem Motto "Mut zu Masse – Serieller Wohnungsbau als Konzept der Zukunft?" sollte ausgelotet werden, ob in den Prinzipien von Standard und Großserie vielleicht doch ein Schlüssel für künftige Problemlösungen liegt. Ein Reizthema, wohl wahr, aber es versprach allerhand: Unter "Standard" konnte man ja nicht nur technische Normierung verstehen, sondern auch das Niveau hierzulande vorherrschender Lebensansprüche. Und war "serielles Bauen" nicht eine der globalen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts gewesen? Wurde es womöglich zu vorschnell aus unseren Architekturdebatten verbannt?

Wohnungsbau in Beelitz. Die Individualisierung der Großbauten gehört zu den Fundamentalproblemen der Serie 

Für Senatsbaudirektorin Regula Lüscher ist "Masse an sich keine Schande". Angesichts eines Baubedarfs von 70.000 Wohnungen in der Hauptstadt sieht sie "wieder mal einen Zeitpunkt für Innovationen" gekommen. Daran gemessen, blieben die Angebote der drei geladenen Referenten dürftig: Peter Christensen, vormals Architekturkurator am New Yorker MoMA und heute in München tätig, beschränkte seinen historischen Exkurs auf frühe amerikanische Fertighausproduzenten sowie, dank Wright, Gropius, Wachsmann und Buckminster-Fuller, auf die üblichen Verdächtigen, die in allen Lexika der Weltarchitektur in der Rubrik "Vorfertigung" erwähnt werden. Fragen nach dem Verbleib der gigantischen Großsiedlungen Osteuropas oder Asiens wurden abgeschmettert: Deren "Herkunft aus anonymen Ingenieurkollektiven" mache die Aufnahme in den "Kanon musealer Geschichtsbetrachtung" schwierig. Nun ja.

...Leinefelde und Bofills Wohnungsbau "Abraxas" in Marne-la-Vallée. (Bild: Wolfgang Kil) 

Julia Gill von der TU Berlin hat als Co-Autorin an einer Senatsstudie mitgewirkt, in der nach einem recht grob gestrickten Bewertungsmodus neuere Experimente auf dem Sektor der Vorfertigung weltweit gesammelt und in Form eines Best-Practice-Katalogs aufbereitet wurden. Solch eine Beispielsammlung mag Studenten inspirieren. Wie man mit den phantasievollen Projekten ambitionierter Einzelkämpfer aber Parlamente und Verwaltungen motivieren will, politische Richtungsentscheidungen zur Abwendung einer drohenden Wohnungsnot zu treffen, lässt die Studie offen.

...Leinefelde und Bofills Wohnungsbau "Abraxas" in Marne-la-Vallée. (Bild: Wolfgang Kil) 

Erst Arno Brandlhuber, das Enfant Terrible der aktuellen Berliner Architekturdebatten, lieferte wenigstens ein paar Schlagworte, die die eher technischen Betrachtungen zu Standard und Serie ins Soziale öffneten: Er verwies auf das Schweizer Modell einer 2.000-Watt-Gesellschaft, deren Verbrauchsparameter generell ganzheitlich, also nach dem "ecological footprint" berechnet werden, und kam damit zu dem Vorschlag, Wohnqualität nicht mehr vorrangig am Flächenverbrauch zu messen: "Standard" wurde so plötzlich zur Maßeinheit zwischen Verschwendung und Bescheidenheit.
Spätestens ab dieser Stelle wären eigentlich Leitbildfragen zu verhandeln gewesen. Aber dafür hätte es einer Gesprächsidee gebraucht, die sich der Komplexität der aufgerufenen "Jahrhundertfrage" oder wenigstens der Reichweite der Begriffe bewusst gewesen wäre. So jedoch wurden gar die Realitäten Berlins als einer "Metropole der Großsiedlungen" beharrlich verdrängt. Kokett wurde über die Lifestyle-Aussichten des Plattenbau- und Industriebezirks Lichtenberg orakelt (während dessen Bürgermeister gerade mit IKEA über die Errichtung eines kompletten Stadtteils aus Low-Budget-Fertighäusern verhandelt). Insgesamt erinnerte dieser Abend an jene fatalen Klimadiskussionen, in denen der eigene Luxuskonsum stets unangetastet bleibt. Dabei würde es mit Lüschers "Mut zur Masse" wirklich ans Eingemachte gehen: Wer sich für die Großserie als Behausungsmodell entscheidet, wird die Individualitätsansprüche der Bewohner absenken, oder er muss andere Formen für deren Entfaltung finden. Dies zu erproben und damit das Moderne-Projekt des industriellen Bauens in eine nächste, höhere Realisierungsphase zu überführen, wäre in der Tat radikal und also glorreiches Ziel für eine IBA. Wenn sie doch diesen unvergleichlichen Schauplatz Berlin nur wirklich kennen und verstehen würde.

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