Hardt-Waltherr Hämer (1922-2012)

Wolfgang Kil
3. Oktober 2012
Hardt-Waltherr Hämer, wie man ihn kannte: mit wirren Haaren und Zigarette (Bild: Wilfried Dechau)

Freunde und Kollegen durften ihn "Gustav" nennen, neben Schnauzbart und zerzauster Mähne gehörte zu seinen Markenzeichen ein dröhnendes Stimmorgan. Wie er damit seiner Rede jederzeit Respekt verschaffen konnte, durfte ich zum ersten Mal erleben, als er im Dezember 1989 im Audimax der Berliner Humboldt-Universität die hier versammelten Ost- und Westberliner Architekten und Planer eindringlich beschwor, in ostdeutschen Grundbüchern die Besitzverhältnisse rechtssicher zu klären, bevor die "Gesamtimmobilie DDR" westdeutschem Kapital zur Übernahme angeboten würde. Seine Warnung kam zu spät. Aber auch in dieser historischen Stunde, da alle aufgeregt und kopflos nach Orientierung suchten, war Hardt-Waltherr Hämer sich treu geblieben: Er wusste, welche Mächte das Schicksal der Städte und Landschaften bestimmen, und selbstverständlich legte er sich für die ins Zeug, die ohne Beistand unterliegen würden. Das war er seinem Gerechtigkeitssinn und seinem Begriff von sozialer Verantwortung schuldig.
Der 1922 bei Lüneburg geborene Hardt-Waltherr Hämer wird da so manches von seinem Vater mitbekommen haben, der u.a. Planungsberater in Moskau und Bezirksarchitekt im Nachkriegsberlin war, bevor er sich mit einem Büro für Wohn-, Schul- und Bürobauten in Hannover niederließ. Sohn "Gustav", gelegentlich auch an Projekten seines Vaters beteiligt, brachte es rasch zu eigenen Erfolgen. Sein größter aus der frühen Werkphase war zweifellos das Stadttheater in Ingolstadt (1961-66), mit vielfach geknickten Umrissformen zeigt der Bau sich deutlich von der Formenwelt Scharouns geprägt.
Während der Arbeit am Ingolstädter Folgeprojekt, dem Katharinen-Gymnasium (1965-70), wurde Hämer 1967 an die Hochschule für Bildende Künste (heute: UdK) in Berlin berufen. Hier, in der wilden Hochburg der Studentenproteste, fand er zu seinem eigentlichen Lebensthema. In verständnisbereiter Auseinandersetzung mit der Hausbesetzerbewegung entwickelte Hämer ein bis dato für Architekten völlig abwegiges Denken: Stadt sollte nicht mehr per Neubau ersetzt, sondern unter Wahrung des Bestandes kontinuierlich erneuert werden, und die hier lebenden Bewohner sollten dabei beteiligt werden. Wachsende Kritik am "Bauwirtschaftsfunktionalismus" rief nach alternativen Konzepten, der Westberliner Bausumpf mit seinen Verrottungs-und Entmietungspraktiken ließ Betroffene aufbegehren, die Situation war reif für eine grundsätzliche Wende. Und Hardt-Waltherr Hämer war der Mann, der die entsprechenden Schritte wagte: Ab 1968 hatte er sich mit Sanierungsprojekten in Charlottenburg und Wedding befasst und deren wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber damals üblicher Kahlschlagsanierung nachgewiesen. Seine "Zwölf Grundsätze der Stadterneuerung" wurden zum strategischen Programm der Altbau-IBA, als deren charismatischer Co-Direktor sich Hämer nicht nur in die Kiezchronik von Kreuzberg SO 36 eintrug. Mit seinem Prinzip der "Behutsamkeit" hat er europäische Baugeschichte geschrieben.
Auch als Emeritus (ab 1986) konnte er sich nicht still aufs Altenteil zurückziehen. Mit dem von ihm gegründeten Sanierungsträger S.T.E.R.N. trug er "Behutsame Stadterneuerung" nach 1990 auch in den Osten. Allenthalben war mit seinen streitbaren Auftritten zu rechnen, ob in den legendären Berliner Stadtforen der 1990er Jahre oder beim Versuch, das Dessauer Bauhaus durch kreative Zukunftsarbeit vor musealer Erstarrung zu bewahren. Dass sein Stadterhaltungskonzept nicht von Nostalgie, sondern von Ressourcenbewusstsein und kultureller Verantwortung getragen war, bewies noch sein 80. Geburtstag: Den feierte "Gustav" als rauschende Party im Clubhaus des Studentendorfes Schlachtensee und brachte so die gesamte Berliner Bau- und Politprominenz dazu, dem offiziell bereits abgeschriebenen Ensemble der Nachkriegsmoderne Reverenz zu erweisen; diese letzte Patenschaft für "bedrohte Verlierer" endete glücklich, die kleine Siedlung ist heute als öffentliches Denkmal gerettet.
Dann zog Hämer ans Meer, in das Künstlerdörfchen Ahrenshoop, gleich neben die kleine Schifferkirche, die er selber noch als Student 1949-51 entworfen hatte. Dort ist er in der vergangenen Woche gestorben. Ein Neunzigjähriger, den man guten Gewissens zu den "Gerechten seines Jahrhunderts" zählen darf.

Die Kirche in Ahrenshoop baute der junge Hardt-Waltherr Hämer 1951 (Bild: Ursula Baus) 
Bild: Ursula Baus

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