Stuttgarts aktuelle Stadtzerstörung

Ursula Baus
23. mei 2012
Am Hauptbahnhof: Die Alte Bahndirektion (unterhalb des Weinbergs) soll abgerissen werden. Rechts davon die Bankbauten, die den Auftakt für das Quartier S21 charakterisieren: Banal, der Maßstabssprung ist unübersehbar. (Bild: Wilfried Dechau) 

Nein, es geht im Folgenden nicht um Stuttgart 21. Im Bild oben deutet sich jedoch an, wohin die Stuttgarter Planungsreisen führen. Der Rathaussaal war voll, als Vittorio Magnago Lampugnani, angekündigt als der "bekannteste und profilierteste Architekturhistoriker Europas", am 30. April 2012 über "persönliche Gebrauchsanweisungen zur zeitgenössischen Stadtplanung" sprach. Das tat er im Rahmen der Rosenstein-Quartiersplanungen, einem neuen Bereich im S21-Gelände. Nutzungsmischung, Feinkörnigkeit der Stadtstruktur, Vorrang des öffentlichen Raumes und so weiter: Lampugnani präsentierte nichts Neues, sondern viel von dem, was man seit Jahrzehnten weiß. Aber in Stuttgart seit Jahrzehnten missachtet.

'Das Gerber'. Links im Bild orange gefärbt das inzwischen leere Quartier, rechts die Visualisierung von der Website 'www.das-gerber.de' (Aldinger + Wolf; dort alle Beteiligten, Architekt: Bernd Albers nach Wettbewerbsgewinn 2009; Bilder: Aldinger + Wolf) 
Rechts die innenstadtverträgliche, bisherige, abwechslungsreiche Struktur der Tübinger Straße – links die Baustelle 'das Gerber'. (Bild: Ursula Baus) 
Blick auf den gegenüberliegenden Quartiersrand an der Marienstraße mit der bisherigen Feinkörnigkeit mit rund einem Duzend Parzellen. (Bild: Ursula Baus) 
Das Gerber

An wenigen Beispielen sei die derzeitige Entwicklung erläutert. Das 14.000 Quadratmeter große Geviert zwischen Tübinger und Marienstraße wurde komplett abgerissen, um dem "Das Gerber" genannte Projekt Platz zu machen. Nicht alles, was dort stand, war erhaltenswert – aber das Eckhaus an der Marienstraße / Paulinenstraße gehörte beispielsweise zu jenen Bauten, die ihre Entstehungszeit in bester baukultureller Erinnerung gehalten hätten. Das riesige Loch, das derzeit hier klafft, wird demnächst mit 650 Tiefgaragenplätzen dazu beitragen, noch mehr Autos in die Stadt zu ziehen. Angekündigt sind 80 Wohnungen mit insgesamt 9.000 Quadratmetern über einem "Handelssockel", über die ab Mitte 2013 mehr zu erfahren sei. Der "Handelssockel" umfasst 24.000 Quadratmeter Laden- und etwa 7.000 Quadratmeter Bürofläche. Die Architektur: ein bisschen Postmoderne mit ubiquitärer Investorenfassade aus Glas und Steinverkleidung. (hier ein Video mit "Oooh, Beddo"-Gesang bei der Grundsteinlegung).

Schräg gegenüber des 'Gerber' entsteht das 'Caleido'. (Bild: Ursula Baus) 
Die Visualisierung des 'Caleido' (Bild: www.caleido-stuttgart.de von Hochtief; Architekten: Léon Wohlhage Wernik) 
Das Caleido

Schräg gegenüber, unmittelbar vis-à-vis der Kirche St. Maria in der Tübinger Straße, wurde Tabula Rasa für das Projekt Caleido gemacht. Auf vollgepfropftem 4.897 Quadratmeter-Grundstück entsteht eine Geschossfläche von 17.200 Quadratmetern, zum Infofilm geht's hier. An dieser Stelle bricht eine Nowhere-Architektur in coolem Glas-Schick mit der Parzellenstruktur des Stuttgarter Südens. Geworben wird übrigens mit dem Slogan: "Sehen und gesehen werden – 260.000 Fahrzeuge pro Tag" – fantastische Voraussetzungen für die beiden Wohngeschosse?

Breuninger baut am Karlsplatz mit Behnisch Architekten, am Hospitalhof gewannen Lederer Ragnarsdottir Oei den Wettbewerb. (Bilder: Architekten) 
Zerstörung ohne Not

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang das Projekt des Kaufhauses Breuninger am Karlsplatz: Ohne Not werden hier passable, anpassbare Bauten der 1950er Jahre abgerissen, und nur dank unermüdlichen Bürgerengagements gelang es, wenigstens das ehemalige Hotel Silber zu erhalten – wir berichteten mehrfach. Die Architektur von Behnisch wurde in der Überarbeitung etwas stadtverträglicher. Hochwertige Architektur, die ortsgebundene Qualität erwarten lässt, bauen LRO am Hospitalhof. Solche Beispiele könnten hoffen lassen. Aber es ist nicht allein das runde Dutzend innerstädtischer Großprojekte, das die Identität Stuttgarts bröckeln lässt.

'Wohnungen mit ca. 174 bis 184 m2 Wohnfläche (…) Großzügige Tiefgaragenplätze (…) Alle Wohnungen mit Aufzug' – wer hier einzieht, kennt keine Wohnungsnot, wird auf dem Weg von der Garage zur Wohnung mit Nachbarn nichts zu tun haben. (Bild: Ursula Baus) 

Denn nun zu den Halbhöhen- und Höhenlagen. Sie sind in vielen Bereichen kaum zerstört gewesen – und machen deswegen bis heute einen erheblichen Reiz der Stadt aus. Man sieht es auch am Bild unten: Die lockere Bebauung verleiht dem "Kessel" ein charakteristisches Bild. Pars pro toto sei hier ein typisches Beispiel dafür gezeigt, was auch hier mit Kahlschlag angerichtet wird. Auf der östlich gelegenen Gänsheide, an der Ecke Gellertstraße, ist noch rudimentär zu sehen, mit welchen beschaulichen Häusern die Gegend einst bebaut wurde und wie charmant der öffentliche Raum war. Das obere Bild zeigt links und rechts zwei typische Häuser der Gänsheide – zwischen ihnen sitzt bereits ein zum Bersten aufgepumptes, vollgestopftes neues Haus mit Garagenzufahrt. Und nun wird auch noch das dunkelgelbe Eckhaus abgerissen und durch eine schauderhafte Mischung aus Satteldach und Schickimicki-Style ersetzt. Bei Immoscout findet man dazu einen Quadratmeter-Preis zwischen 6.000 und 6.500 Euro.  Obwohl eine U-Bahnhaltestelle nur 3 Minuten entfernt ist, werden hier  Tiefgaragen gebaut – unfassbar, wieso sie in einer solchen Situation erlaubt werden. Zwei Schritte weiter sieht man haargenau, welche katastrophalen Folgen solcher Raubbau an der gewachsenen Struktur für den öffentlichen Raum einer Wohnstraße hat: Rechts steht noch ein Haus mit Vorgarten und verziertem Gartentor, links ein banaler Neubau: Zugepflastertes Vorfeld im Verbund mit Garagentoren verwandelt die Wohnstraße zum Albtraum. Es gäbe ja Möglichkeiten, dergleichen zu verhindern: Ensembleschutz, Gestaltungssatzungen für den öffentlichen Raum, Änderungen in Park- und Stellplatzverordnungen. In Stuttgart kümmert sich niemand darum.

Panorama der Innenstadt von Osten aus: links die Innenstadt mit der deutlich zu groß geratenen Glastonne am Königsbau, rechts der Auftakt zu Stuttgart 21 (Bild: Wilfried Dechau) 
Danke, es hat nichts genützt

Eben erschien im Belser-Verlag das Buch "Architekturstadt Stuttgart. Bauten – Debatten – Visionen". Beiträge, die über viele Jahre in der Stuttgarter Zeitung von deren Architekturkritikerin Amber Sayah und vielen freien Autoren wie Arno Lederer, Franz Pesch und anderen verfasst wurden, sind hier zusammengefasst und lassen keinen Zweifel daran, dass die Planungsverfahren mit all ihren Konsequenzen nicht hinreichend kritisiert worden wären. Anerkennung des Publikums für viele ihrer Einsprüche kommentierte Amber Sayah anlässlich der Buchvorstellung im Literaturhaus Stuttgart mit "Danke. Es hat leider nichts genützt". "City Gate", "Caleido", "Milaneo", "da Vinci" (inzwischen umbenannt in Dorotheen-Quartier), "Pariser Höfe" – solche abstrusen Quartiersnamen demonstrieren bereits aufs Beste, dass die Projektchefs mit der Identität Stuttgart nichts am Hut haben.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, jede Weiterentwicklung der Stadt zu verhindern. Das Projekt am Hospitalhof beweist, wie sie zum Nutzen und Frommen der Stadt und ihrer öffentlichen Räume gelingen kann. Falsch sind dagegen zu große Projekte mit banaler Architektur; zerstörend wirkt sich aus, wenn der öffentliche Raum allzu oft aufgegeben und renditeorientierten Privatinteressen überlassen wird.

Die Stadt Stuttgart wirbt mit Baukränen – den Link zur Übersicht der Innenstadtprojekte in der Seitenspalte (Bild: Homepage Stadt Stuttgart) 
Versäumtes

Auf dem frei werdenden Gelände von Stuttgart 21 bieten sich der Stadt alle Möglichkeiten, absolut leergeräumte Flächen gut zu bebauen. Es ist nicht einzusehen, warum nun in der vorhandenen, sagen wir ab jetzt einfach: "Altstadt", ganze Häuserblöcke weggerissen werden – ohne Not. Zu beklagen ist vor allem, was die Stadtentwicklung alles nicht leistet. Sie schafft es nicht, Autos aus der Stadt raus zu halten, die unter schlimmen Feinstaubwerten und einer stickigen Luft leidet. Stattdessen zusätzliche Tiefgaragen im Zentrum und in dünn besiedelten Höhenlagen bauen zu lassen: Man fasst es nicht! Seit Jahrzehnten steht außerdem an, die sogenannte Kulturmeile – eine Stadtautobahn mit bis zu 10 Fahrstreifen und 100.000 Autos pro Tag, menschenverträglich umzugestalten. Nichts passiert.
Man stelle sich vor: OB Schuster und Baubürgermeister Hahn eilen mit dem Projekt "Kulturmeile" und der Idee, den hier vergrabenen Nesenbach ans Licht der Welt zurückzubringen, zur Mipim? Undenkbar – und genau darin liegt das Problem: Die Macht über die Städte hat die Politik längst an Investoren abgegeben, die schamloser denn je ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen wissen. Die letzte große Stadtzerstörung war der Ideologie der "autogerechten Stadt" geschuldet. Daraus hat Stuttgart bereits so gut wie nichts gelernt. Die jüngste Zerstörung ist dem unverhohlenen Diktat ökonomischer Interessen anzulasten – nichts Neues, gewiss nicht. Aber dass überall die Kritik daran öffentlich ist und sich keiner mehr drum schert: Das ist eine dramatische Entwicklung, die unsere gesamte Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungsprozessen spiegelt. ub

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