Zeltdach des Olympiastadions München »geadelt«

Manuel Pestalozzi
16. Oktober 2023
Das Zeltdach lässt sich begehen. Es werden Touren angeboten. (Foto: Usien/Wikimedia Commons)

Historische Ingenieurbauwerke erzählen von der Genialität vergangener Ingenieur*innen-Generationen und spornen mit ihrem Beispiel zu neuen Leistungen an. Ingenieurbauwerke wie Brücken, Türme und Tunnel bilden einen wesentlichen Bestandteil unserer Baukultur. Deshalb ehrt die Bundesingenieurkammer seit 2007 historisch bedeutende Ingenieurbauwerke mit dem Titel »Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland«. Die in Frage kommenden Bauwerke müssen sich auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland befinden und älter als 50 Jahre sein. Dieses Jahr hat sich das Zeltdach des Olympiastadions in München zu diesem Kreis illustrer, eindrücklicher Bauwerke gesellt. Manche werden es vielleicht eher der Architektur als der Ingenieurbaukunst zuordnen.

Denn das Zeltdach im Olympiapark, fertiggestellt auf die Sommerspiele 1972, ist vielleicht das beeindruckendste Beispiel einer diskreten, zurückhaltenden Monumentalbaukunst: groß, aber nicht auftrumpfend oder gar einschüchternd, sondern zurückhaltend und Geborgenheit stiftend. Die Bundesingenieurkammer erinnert in ihrer Präsentation des gewürdigten Projekts daran, dass die Idee für das Werk auf den durch den Architekten Frei Otto erbauten Deutschen Pavillon für die Expo 1967 in Montreal zurückging, die angedachte Überdachung des Olympiastadions und des gesamten Olympiaparks jedoch in völlig neue Dimensionen vorstieß. Eine 1:1-Umsetzung des Entwurfs von Frei Otto, der das Stadion von Behnisch & Partner komplettierte, sei nicht möglich gewesen, die Realisierung eines Zeltdaches in dieser Größenordnung technisch, zeitlich und finanziell umstritten. Nur durch die Zusammenarbeit einer Gruppe von Ingenieuren unter Leitung von Jörg Schlaich mit enger Verzahnung der planenden Berufe konnte es, so die Bundesingenieurkammer, in seiner abschließenden Form realisiert werden. Die Bundesingenieurkammer erinnert an eine Vielzahl an Innovationen für den heutigen Bau von Brücken und Dächern, welche das Zeltdach als Unikat auslöste, etwa die Weiterentwicklung der Stahlgusstechnologie, dauerschwingfeste Verankerungen und Klemmen für Seile und Litzen sowie die enge Umlenkung verschlossener Seile, die dehnbaren, hochpräzisen, vorgefertigten Seilnetze, der erste große CAD-Einsatz und die Erd-Anker.

Revolutionäre Dachhaut

Erwähnenswert hält die Bundesingenieurkammer, dass das Material, mit dem die Dachhaut erstellt werden sollte, lange umstritten war. Sie erzählt von einem Entwurfsmodell aus Feinstrumpfhosen. Letztlich habe die heutige Acrylglaseindeckung den Zuschlag bekommen.  Als Grund nennt Bundesingenieurkammer die Erfahrung der Olympischen Spiele 1968 in Mexico City: Die Qualität der Fernsehbilder habe unter dem Schattenwurf des Stadiondaches gelitten, deshalb sei eine lichtdurchlässige Dachhaut angestrebt worden. 

Das Dach gilt auch als Pionierwerk bei der computerbasierten Berechnung von Tragstrukturen. Die Bundesingenieurkammer hebt in diesem Zusammenhang die Leistung von Professor John H. Argyris (Universität Stuttgart) hervor. Nach Baubeginn habe er ein mathematisch-elektronisches Berechnungsverfahren gefunden, das es ermöglicht habe, leichte räumliche Tragwerke in den Dimensionen des Daches exakt zu berechnen. 

Seit 1997 steht das Stadion unter Denkmalschutz. Im Jahr 2016 wurden durch die Aktion Welterbe Olympiapark Forderungen laut, das gesamte Areal des Olympiaparks in die Liste des UNESCO-Welterbes aufzunehmen. Bis zum Jahr 2002 wurde das Zeltdach saniert, weil die originalen Dachplatten aus Acrylglas von 1972 eine milchige Farbe angenommen hatten. Die Verfärbung war von der Oxidation der Eisenbestandteile im Acrylglas verursacht worden, die wegen des Brandschutzes zugesetzt worden waren. Sie wurden durch eine neue Kunststoff-Glas-Mischung ohne Eisenbestandteile ersetzt. Der Olympiapark München bietet übrigens geführte Zeltdach-Touren an. 

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