Schön brutal

Thomas Geuder
25. November 2015
Bushaltestelle in Pitsunda, Abchasien. (Bild: Christopher Herwig / Fuel)

Altes bewahren und Platz für Neues schaffen, diesen Spagat müssen nicht zuletzt Architekten und Stadtplaner immer wieder tun. Traurige Wahrheit dabei: Viele für die Baukultur eigentlich wichtige Bauten wurden in diesem Zuge dem Boden gleich gemacht – Beispiele aus der eigenen Stadt vermag fast jeder zu nennen. Abseits der politischen Entscheidung zum Schleifen von baulichem Bestand jedoch liegt es eben in der Natur der Sache selbst: Architekten können zwar Sanieren, Renovieren und Umbauen, doch eine wesentliche Charakteristik des Berufs liegt im Neubau, im Schaffen neuer Räume und neuer Orte. Kultur ist eben kein starres, für alle Zeiten zementiertes Gerüst, sondern verändert sich ständig. Und das ist gut so.

Dennoch: Das Bewahren von Gebäuden und selbst von Artefakten entspricht dem grundlegenden Bedürfnis unserer Gesellschaft, wie die im Auftrag der ZEIT-Stiftung kürzlich durchgeführte forsa-Studie «Meinungen und Einstellungen zu schutzwürdigen Gebäuden und Kulturgütern» zeigt. In Ost und West ist das Interesse an alter Bausubstanz, an Sakralbauten und überlieferten Kulturgütern hoch: Gut instandgehaltene ältere und historische Gebäude gehören zur Lebenszufriedenheit. Sie sind für 67 Prozent der Menschen wichtig und tragen stärker zur Lebensqualität bei als ein gutes kulturelles Angebot mit Theateraufführungen, Ausstellungen und Konzerten (55 %). Der Mehrheit der Menschen (76 %) würde ohne historische Gebäude etwas fehlen.

Bemerkenswert dabei ist, dass zeitgenössische Architektur bei der Bevölkerung eher schlecht wegkommt: Von den gegenwärtig in Deutschland in aus heutiger Sicht moderner Architektur gebauten Bauwerken meinen nur 16 Prozent aller Befragten, dass viele von so hoher architektonischer Qualität oder Bedeutung seien, dass sie in 50 oder 100 Jahren auch noch geschätzt würden. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass ein Bauwerk umso eher geschätzt wird, je älter es ist.

Stellt sich also die altbewährte Frage, was «gute» und «schlechte» Architektur sei. Denn wie sich der Baustil immer wieder ändert, so ändert sich auch der Blick der Betrachter auf Gebautes. Brutalismus? Warum nicht! Was gestern hässlich war, kann heute bereits wieder schön sein. So etwa der Fotograf Christopher Herwig, der mit seinem nun erschienenen Buch «Soviet Bus Stops» (wir kündigten es bereits im Frühjahr in unserer Rubrik „Film der Woche“ an) den Umgang mit diesem Thema schärfen und Futter für die Diskussion liefert. Dort zeigt er zahlreiche außergewöhnliche Bushaltestellen aus 14 ehemaligen Sowjetrepubliken, die ob ihrer offensichtlich von Dogmen völlig befreiten Gestaltfindung durchaus das Zeug zum öffentlichen Kunstobjekt haben. Ob das nun gute oder schlechte Architektur ist? Das liegt wohl oder übel im Auge des Betrachters.

Shymkent, Kasachstan (Bild: Christopher Herwig / Fuel)
Etschmiadsin, Armenien (Bild: Christopher Herwig / Fuel)
Gagra, Abchasien (Bild: Christopher Herwig / Fuel)
Pitsunda, Abchasien (Bild: Christopher Herwig / Fuel)
Pitsunda, Abchasien (Bild: Christopher Herwig / Fuel)
Buch: Christopher Herwig, Soviet Bus Stops (Cover: Fuel)

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