Amazonien in Venedig

John Hill
28. Juli 2023
Vorschule, Alto Anapati, 2021. Finanzierung: Fly & Help und Municipalidad de Pangoa (Foto: Eleazar Cuadros)

Am 19. Mai, einen Tag vor der Eröffnung der Architekturbiennale in Venedig 2023, versammelte sich eine Gruppe im Palazzo Contarini Polignac, um der divia-Preisträgerin Marta Maccaglia zu gratulieren. Die in Italien geborene Architektin gründete den gemeinnützigen Verein Asociación Semillas, um Schulen in der peruanischen Amazonasregion zu bauen. Der Empfang, bei dem die Preisstifterin Ursula Schwitalla, Maccaglia und einige der Mitfinalisten sowie die Jurorin Martha Thorne zu Wort kamen, bildete den Abschluss der ersten Ausgabe des alle zwei Jahre verliehenen divia awards. Dieser wurde im Juni 2021 als Plattform ins Leben gerufen, „um die Sichtbarkeit von Architektinnen zu erhöhen, ihre Arbeit anzuerkennen und zu würdigen, die Gleichstellung zwischen männlichen und weiblichen Architekten zu fördern und das Bewusstsein für Vorbilder für junge Architektinnen zu schärfen.“ Selbst der Regen konnte den festlichen Anlass nicht trüben, bei dem auch der vom Verlag Hatje Cantz herausgegebene Begleitband präsentiert und zahlreiche von Aperol-Spritz beflügelte Unterhaltungen geführt wurden. World-Architects-Redakteur John Hill traf Maccaglia am folgenden Tag im Café Paradiso vor den Toren der Biennale, um über divia, Semillas, Peru und die Präsenz Amazoniens auf der Architekturbiennale in Venedig zu sprechen.

V. l. n. r.: Jurorin Martha Thorne, divia-award-Buchredakteurin Veronika Lukashevich, Finalistin Tosin Oshinowo, Finalistin Noella Nibakuze, Gewinnerin Marta Maccaglia, Finalistin Liza Fior und divia-award-Chefin und -Stifterin Ursula Schwitalla bei der Preisverleihung im Palazzo Contarini Polignac am 19. Mai 2023. (Foto: John Hill/World-Architects) 

John Hill (JH): Was war Ihre erste Reaktion, als Sie erfuhren, dass Sie für den divia award nominiert worden sind? Wussten Sie überhaupt, dass der Preis existiert?

Marta Maccaglia (MM): Dieser Preis wurde zum ersten Mal verliehen, also kannte ich ihn nicht. Aber er wurde von Anna Heringer, Odile Decq und anderen Architektinnen ins Leben gerufen, die ich sehr schätze und die mich in meiner Karriere wiederholt inspiriert haben. Ich war überrascht, als ich für den Preis nominiert wurde. Es gab 25 oder 27 Architektinnen auf der ganzen Welt, also dachte ich: ›Wow!‹ [lacht] ›Ich bin dabei!‹ Als ich dann als Finalistin genannt wurde, war ich wieder überrascht. Ich hatte keinerlei Erwartungen. Nachdem in Berlin bekannt gegeben worden war, dass ich den Preis gewonnen hatte, war meine Reaktion... ein bisschen emotional. Ich bin sehr stolz auf diese Auszeichnung. Ich denke, Semillas ist ein Büro, das Vielfalt symbolisiert, daher bin ich stolz, dass wir diesen Preis erhalten haben. Natürlich steht mein Gesicht im Vordergrund, ich bin die Gründerin und Leiterin und ich führe den Verein, aber es ist ein Kollektiv; es ist die Arbeit vieler Mitwirkender. Dieser Preis bedeutet uns viel, denn er wird uns helfen, Türen zu weitere Möglichkeiten zu öffnen.

JH: Gehört es zu Ihrer Arbeit bei Semillas, Finanzmittel für die Projekte zu finden? Könnte dieser Preis dazu beitragen, dies zu erleichtern?

MM: Das ist echt harte Arbeit. Wir sind kein typisches Architekturbüro, bei dem die Bauherren uns ansprechen. In unserem Fall finden wir die Gemeinde... und manchmal finden die Gemeinden uns. Wir haben eine lange Liste von Gemeinden, die Hilfe benötigen, und wir arbeiten mit dem Bildungsministerium zusammen, um herauszufinden, wo diese gerade am meisten gebraucht wird. Danach stellen wir einen Antrag auf Fördermittel, manchmal bei einer europäischen Stiftung. Wir haben Projekte mit und dank Volcafe Speciality (VSP) Peru Generaciones und der Costa Foundation gestartet, arbeiten mit der NGO CPS aus Italien zusammen und jetzt auch mit der Fly & Help Foundation und dem deutschen Entwicklungsministerium über die NGO We-Building. Es ist ein sehr langsamer Prozess, der sich über Jahre hinzieht und eine Spezialisierung erfordert. Aber es macht mir wirklich Spaß. Es ist eine Gelegenheit, den Kontext zu erforschen, die Region, die Kultur, die soziale Situation, das Bildungsniveau... Alle Recherchen helfen uns, die Gemeinschaften, in denen wir arbeiten, genau zu verstehen. Mir ist es wichtig, in einem festen Team zu arbeiten, das nicht nur im Bereich Architektur qualifiziert ist, sondern auch über geografische Kenntnisse und anthropologisches Wissen verfügt.

JH: Wie viele Personen zählen derzeit zu Ihrem Team?

MM: Momentan sind wir zu acht, davon sechs Architektinnen. Drei von uns kommen aus Italien, drei aus Peru. Außerdem gibt es einen Buchhalter und einen Anwalt, die mich bei administrativen Dingen unterstützen.

Ich denke, all diese Eigenschaften von Semillas tragen dazu bei, dass unsere Entwürfe sehr authentisch sind. Und in der Atmosphäre, die unsere Projekte ausstrahlen, kann man, denke ich, Glück erkennen. Denn wir gehen Schritt für Schritt gemeinsam mit der Gemeinde voran. Anfangs war es nicht einfach, weil die Gemeinschaften uns – oder mich persönlich – nicht akzeptierten. Es gibt viele Geschichten in Peru über Weiße, die schlimme Dinge mit Kindern gemacht haben. Es ist eine vom Drogenhandel betroffene Gegend, die unter den Folgen des bewaffneten Konflikts in Peru gelitten hat. Aber jetzt, da wir eine Vereinbarung mit den Gemeindeverbänden der indigenen Bevölkerung haben, beziehen wir die Bewohner von Anfang an mit ein. Auch das Thema Finanzierung ist komplex. Fünfzig Prozent kommen von internationalen Unternehmen, fünfzig Prozent von der lokalen Regierung, hauptsächlich von den Gemeinden. Unsere harte Arbeit besteht darin, alles und jeden zusammen zu managen.

Die Gestaltung der Projekte ist sehr wichtig, denn in unseren Augen hat die Architektur einen starken Einfluss auf das tägliche Leben. Wir versuchen, das Wohlbefinden einer indigenen Gemeinschaft zu interpretieren. Wir gehen in die Gemeinden, lernen und hören zu, um Gebäude zu entwerfen, die mit dem Kontext und mit dem Geist der Bevölkerung in Einklang stehen. Eine Schule ist die wichtigste Infrastruktur, denn sie ist oft die einzige öffentliche Einrichtung in einer Gemeinde mit um die einhundert Familien.

Vorschule, Alto Anapati, 2021. Finanzierung: Fly & Help und Municipalidad de Pangoa (Foto: Eleazar Cuadros)

JH: Ich lebe in New York und denke an die dortigen Architekturbüros, die ebenfalls anders vorgehen als üblich. Einige dieser Firmen sehen es gern, wenn ihre Mitarbeiter den einzigartigen Prozess des Büros erlernen und dann ihre eigenen Firmen gründen und dieses Wissen mitnehmen – damit es sich sozusagen verbreitet. Hoffen Sie, mit Semillas etwas Ähnliches zu erreichen?

MM: Ja, natürlich. Ich denke, das Konzept und die Philosophie von Semillas könnten in verschiedener Hinsicht multipliziert werden. An der Universität habe ich einen Workshop mit Al Borde, einem ecuadorianischen Büro, veranstaltet, bei dem die Studierenden in Siedlungen in Lima gearbeitet haben. Wir haben gemeinsam mit den Studenten und der Gemeinde gebaut und den Studenten dabei diese partizipative Methode beigebracht: Zuhören und Gestalten, basierend auf den Bedürfnissen der Bevölkerung, damit die Entwürfe das Ergebnis sozialer Reflexion sind. Im Anschluss an die technischen Entwürfe leiteten wir die Studenten an, die Gesetze bei der Umsetzung des peruanischen Bildungssystems richtig auszulegen und eine sehr fundierte und korrekte technische Präsentation vor der Gemeinde zu halten. Wir haben ihnen beigebracht, eine Verbindung zum Kontext herzustellen: zu den vorhandenen Materialien, dem Budget und anderen Parametern, die im normalen Berufsleben relevant sind. An der Universität sind die meisten Angebote für Studierende keine realen Projekte – dieses Projekt aber schon. Die Studierenden haben ein kleines Budget verwaltet, Materialspenden von Unternehmen organisiert und das Projekt gebaut. Für mich ist das Unterrichten eine Möglichkeit, die Methodik und meine Sichtweise auf Architektur zu verbreiten.

JH: Gibt es Architekten und Studios – ich denke da an Rural Studio in Alabama –, die Sie inspirieren und die ebenfalls mit Gemeinden zusammengearbeitet haben, um ihren Bedarf festzustellen?

MM: Durchaus. Anfangs habe ich intuitiv gehandelt, weil ich quasi allein im Regenwald war. Dadurch habe ich begriffen, dass Design ohne Prozess nicht funktionieren kann. Nach dieser Erfahrung konnte ich über die Bezüge nachdenken. In Italien ist zum Beispiel das partizipative Design von Giancarlo de Carlo, der das Viertel meiner Heimatstadt entworfen hat, sehr wichtig für mich, um Architektur als interdisziplinäre Teamarbeit zu verstehen. Oder Herman Hertzberger in Bezug auf Schularchitektur. Auch in Lateinamerika gibt es eine Reihe von Architekten, die sehr gute Architektur schaffen, wie Al Borde aus Ecuador und Solano Benítez aus Paraguay. Und es gibt einige sehr starke Frauen aus Mexiko, die auf unterschiedliche Weise sehr gute Architektur gestalten, lokale Materialien verwenden und die öffentliche Infrastruktur fördern. Lateinamerika ist wirklich eine Inspiration, aber die besten Anregungen kommen für mich von den Gemeinden, denn sie haben meine Denkweise verändert. In Europa sind wir so individualistisch! In einer indigenen Gemeinschaft hingegen gibt es die Vorstellung von Privateigentum nicht, es gibt nur gemeinschaftliches Eigentum. Dem liegt das Konzept zugrunde, dass man 50, 60 oder 70 Jahre lebt. Also geht es nicht um die Macht, Dinge zu besitzen, sondern um eine gemeinsame Welt. Diese Auffassung vom Leben fasziniert mich.

Peruanischer Pavillon, Walkers in Amazonia: The Calendar Project (Foto: John Hill/World-Architects)

JH: Was halten Sie vom peruanischen Pavillon, Walkers in Amazonia: The Calendar Project?
MM: Ich liebe den Regenwald sehr, weil ich dort viel lerne, und ich bin froh, dass im Pavillon der Regenwald thematisiert wird. In Peru diente der Amazonaswald lediglich zur Ausbeutung der Ressourcen. Der Regenwald macht 61 % des peruanischen Staatsgebiets aus, aber wenn man von außen an Peru denkt, woran denkt man dann?

JH: Machu Picchu.
MM: Genau, Machu Picchu und die Inkas. Wenn ich erzähle, dass ich in Peru lebe, sagen die Leute: ›Ach, du lebst so hoch oben!‹ Nein, ich lebe an der Küste, Lima liegt direkt am Meer. Es ist ein sehr vielfältiges Land mit verschiedenen Kulturen und Gebieten: Küsten, Wüste, Andengebirge und Regenwald. Der Regenwald ist das wichtigste Gebiet, nicht nur wegen seiner Größe. In Peru gibt es 42 Sprachen, und die meisten davon werden im Amazonasgebiet gesprochen. Ich bin also sehr stolz auf diesen Pavillon. Ich denke, die Arbeit von Alexia León [Kuratorin, zusammen mit Lucho Marcial, Anm. d. Red.] ist äußerst anspruchsvoll. Sie arbeitet mit einer NGO zusammen, die in der Region San Martín tätig ist. 

Die Form des Pavillons ist sehr elegant und minimalistisch. Die Verwendung des Kalenders als Zeichnung ist besonders eindringlich. Man hat das Gefühl, sich in der Zeit zu bewegen, denn die Zeichnungen handeln von Zeit und dem Zeitverständnis in indigenen Gemeinschaften. Als ich den Pavillon besuchte, erinnerten mich diese Zeichnungen an den partizipativen Prozess, den wir in den Gemeinden durchführen. Sie haben nämlich eine anders Auffassung von Zeit. Zum Beispiel machen wir eine Übung, bei der wir versuchen, die Aktivitäten der Schule mit dem Kalender der Gemeinschaft zusammenzubringen; der Kalender ist mit dem Land, dem Fluss, dem Fischen, der Landwirtschaft verbunden. Im Peru-Pavillon ist die Zeit nicht linear, denn sie ist mit den verschiedenen Schichten des Landes verbunden. Das ist faszinierend. Der Darstellung nach zu urteilen denke ich, dass Alexia dieses Aspekt verstanden hat.

JH: Verstehe ich das richtig, dass es genauso viele Kalender wie Sprachen gibt?

MM: Nicht ganz. Es ist in gewisser Weise ähnlich, weil der Kalender mit dem Land, der Sonne, dem Fluss verbunden ist... Es handelt sich also um ein kreisförmiges Zeitverständnis, nicht Januar, Februar, März, ... In der Vergangenheit haben wir für die Vorbereitung einer partizipative Veranstaltung Plakate mit den Monaten des Jahres genutzt, und die Bewohner dachten: ›Oh mein Gott, nein!‹ Seitdem ich das Zeitkonzept der indigenen Gemeinschaften verstanden habe, geben wir der Gruppe nur leere Blätter und Namen. Ich finde das sehr interessant. Es gibt eine Verbindung zu Stadtplanung, zur Gestaltung; die Bereiche sind nicht getrennt, sie sind vollständig miteinander verbunden. Die Hauptfrage dabei ist: Wie können wir das in der Gestaltung reflektieren? Normalerweise setzt die peruanische Regierung standardisierte Infrastruktur für die Gemeinschaften ein. Diesem Ansatz stehen wir kritisch gegenüber, denn wir glauben, dass Gestaltung die Verantwortung hat, die Gemeinschaft zu repräsentieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Artikel erschien erstmals unter dem Titel »Amazonia in Venezia« auf World-Architects. Übersetzung von Bianca Murphy.

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