Skelett, Seifenblase und Spinnennetz

Ulf Meyer
18. März 2015
«Frei»: Frei Otto (Bild: ingenhoven architects)

Nach der bleiern-schweren Architektur des Nationalsozialismus wollte die westdeutsche Nachkriegsarchitektur nichts sehnlicher sein als leicht, offen, transparent und elegant. Wie kein zweiter deutscher Architekt steht Frei Otto für dieses Bestreben, mit minimalem Materialeinsatz der Natur abgeschaute Leicht-Konstruktionen zu entwerfen, die umwerfend schön und zugleich funktional sind. Schnell wurde ihnen das Label «organisch», «gotisch» und »demokratisch» verliehen. Fast auf den Tag genau mit der Verleihung des 40. Pritzker-Preises ist Frei Otto am 9. März verstorben. Die Bekanntgabe erfolgte wegen des Todesfalls zwei Wochen vor dem geplanten Zeitpunkt. Die Auszeichnung, die die Stiftung der Familie Pritzker aus Chicago, der die Hyatt-Hotel-Kette gehört, vergibt, ist mit 100'000 Dollar hoch dotiert.
Otto galt als Architekt eines anderen, freundlicheren Deutschlands. Sein Vorname war Programm. Für Frei Otto war ein Architekt zugleich auch ein Forscher, Erfinder, Ingenieur und Humanist – und vor allem ein interdisziplinärer Team-Arbeiter. Denn alle Entwürfe von Otto sind das Resultat von Kollaborationen. Otto hat mit Rob Krier, Günther Behnisch, Christoph Ingenhoven und Shigeru Ban, also einigen der interessantesten Architekten des Jahrhunderts, zusammengearbeitet. Es spricht für Otto, dass er mit so unterschiedlichen Architekten die Auseinandersetzung suchte und die Zusammenarbeit fand. Otto selbst bezeichnete sich als Ideengeber, der «wenig gebaut hat und stattdessen 'Luftschlösser' ersinnt» – ein wahres Understatement.

Stadiondach für die Olympischen Spiele in München 1972 (Bild: Atelier Frei Otto)

Schon als Otto als junger Mann einen Segelflugschein machte, kam er erstmals mit Leichtbauweisen und rahmen-gespannten Membranen in Kontakt, die ihn sein Leben lang beschäftigen sollten. Sie zeichnen auch Ottos berühmtestes Bauwerk aus, das Zeltdach über den Hauptsportstätten in München für die Olympischen Sommerspiele von 1972. Ottos leichte Dächer sind keine «Deckel», sondern «der Beginn des Himmels», wie Kritiker schwärmten. Neugierde, Experimentierfreudigkeit, Einfallsreichtum, eine große Portion Talent und Sensibilität fanden in Ottos Werk zueinander. Seine Raumschöpfungen, die der Parole «do more with less» folgen, waren zugleich experimentell, originell und noch-nie-dagewesen. Der ausgefeilte und räumlich wirksame Leichtbau mit Seilnetzen, Gitterschalen und anderen auf Zug beanspruchten Konstruktionen machten Otto zu einem der bedeutendsten Architekten und Ingenieure des 20. Jahrhunderts. Wie nur noch Richard Buckminster Fuller in den 1960er-Jahren oder Santiago Calatrava heute konnte Otto Bauingenieurswesen und Raumkunst zusammen denken. Inspirieren ließ sich Frei Otto meist von Naturphänomenen wie Skeletten, Seifenblasen und Spinnennetzen – seine Werke drücken Leichtigkeit und Stabilität zugleich aus und verschmelzen Architektur und Landschaft miteinander ebenso wie Wand und Decke und Innen und Außen.

Deutscher Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967 (Bild: Burkhardt)

Nach dem Architekturstudium an der Technischen Hochschule Berlin promovierte Otto 1954 zum Thema «Das hängende Dach». Die Bautechnik zugbeanspruchter Flächentragwerke hat er darin erstmals umfassend dargestellt. Das Gebäude des legendären «Instituts für Leichte Flächentragwerke (IL)», das Otto 1964 an der TH Stuttgart gründete, diente als Modell für den deutschen Pavillon, der drei Jahre später in Kanada auf der Expo 1967 in Montreal gebaut wurde. Der Bau basierte ganz auf einem Kabelnetz – vorfabriziert in Deutschland konnte er in kürzester Zeit in Quebec aufgebaut werden. Mit ihm gelang eine moderne, innovative und zugleich ästhetisch-epochale Präsentation Deutschlands auf der Weltausstellung – wie drittklassig hingegen die letzten deutschen Pavillons auf den Weltausstellungen in Nagoya, Shanghai oder dieses Jahr in Mailand geraten sind!

Multi-Halle in Mannheim, 1975 (Bild: Atelier Frei Otto)
Japanischer Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover (Bild: Hiroyuki Hirai)

Die beschwingten Dachformen entwickelte Otto meist anhand von Experimenten mit Drah­tmodellen, die er in Lauge tauchte, so dass die Seifenhaut mit dem geringst möglichen Flächeninhalt die Distanzen überspannt. Aber auch mit Pneus, Gitterschalen, Geweben und Seilnetzen «spielte» Otto erfolgreich bei der Formfindung. Bisweilen übertrug er derlei natürliche Formprinzipien auf Seilnetze, indem er diese Netze aufhängte, und dann umkippte. Nach diesem Hänge-Verfahren gestaltete er auch Gitterschalen aus Holz – wie für die Multihalle in Mannheim. Das Motiv variierte Frei Otto noch einmal, als im Jahr 2000 die Weltausstellung in Hannover stattfand und der Tokyoter Architekt Shigeru Ban für den Bau des japanischen Expo-Pavillons aus recycelbaren Pappröhren mit Otto zusammen ein Tonnendach von einmaliger Raumwirkung und Lichtstimmung ersann.

Voliere in München-Hellabrunn, 1980 (Bild: Atelier Frei Otto)

Von Otto gibt es nur wenige dauerhafte Gebäude hierzulande. Die luftige und fast unsichtbare Großvoliere im Münchner Tierpark Hellabrunn ist heute noch zu bewundern, und natürlich auch das Münchner Großdach. Sie zeigen, wie effektvoll Otto «Dächer zum Schweben bringen» konnte. Seine beeindruckenden Zeltdächer für temporäre Pavillons wie für die Bundesgartenschauen und andere Veranstaltungen in Kassel, Köln und Hamburg sind alle längst wieder abgebaut. Das kleine erhaltene Oeuvre liegt jedoch nicht nur an der temporären Natur seiner Pavillonbauten, sondern auch daran, dass – wie es in den 1970er- und 1980er-Jahren bei westlichen Architekten nicht unüblich war – Otto im Nahen Osten, speziell in Saudi-Arabien bauen konnte. Das Konferenzzentrum in Mekka von 1974 etwa oder das Kulturzentrum Tuwaiq Palace in Riad zehn Jahre später sind bleibende Werke, die kaum ein deutscher Kritiker jemals gesehen habe dürfte. Ein wichtiges Werk wird jedoch noch posthum von Otto fertiggestellt: Die formschönen «Licht-Augen» aus Beton, die derzeit in Stuttgart als wichtigstes Element des unterirdischen neuen Hauptbahnhofs für «Stuttgart 21» gebaut werden, basieren auf einer Idee von Frei Otto, die nun von Christoph Ingenhoven aus Düsseldorf umgesetzt wird.
Es ist dreißig Jahre her, dass die Pritker-Jury aus Chicago mit Gottfried Böhm zum letzten Mal einen deutschen Baukünstler für preiswürdig erachtete. Die lange Serie der Preisverleihungen nach Ostasien, speziell Japan, ist einmal unterbrochen worden. Frei Otto hat die Auszeichnung allemal sehr verdient und sie wird dazu beitragen, dass sein einmaliges Werk in Deutschland noch mehr geschätzt wird. Dass der Preis erst mit dem Tod von Otto verliehen wurde, ist ein kurioses Detail und sollte Ansporn sein, auch jüngeren Kollegen Höchstleistungen in der Architektur zu ermöglichen.

Lichtaugen für den Stuttgarter Hauptbahnhof, Arbeitsmodell (Bild: saai)
Segeldach auf der Bundesgartenschau in Kassel, 1955 (Bild: Atelier Frei Otto)
Diplomaten-Club in Saudi-Arabien (Bild: Atelier Frei Otto Warmbronn)

Ulf Meyer hat in Berlin und Chicago Architektur studiert. Er arbeitete bei Shigeru Ban Architects in Tokyo und unterrichtete an der Kansas State University, der University of Nebraska-Lincoln und der Tamkang University in Taiwan. Heute lebt und arbeitet Meyer als Architekturjournalist in Berlin.

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