Die halbe Wahrheit

Christian Holl
9. Januar 2012
Objektivität macht nur einen Teil der Wirklichkeit sichtbar. (Bild: Christian Holl) 

Subjektivität: Wenn sie bemüht wird, um über die Arbeit von Architekten zu reden, dann werden selten Komplimente gemacht. Aus "rein subjektiven Geschmacksneigungen", so Lampugnani, entstehe keine "Stadtarchitektur" (1); berüchtigt sind die Architekten, die sich angeblich selbst verwirklichen wollen, auf Kosten des Bauherrn und der Nachbarn versteht sich. Berufspolterer wie Ulf Poschart schimpfen darüber, dass der Drang zur Selbstdarstellung die Städte ruiniere und dass es einem Teil der Architekten schwer falle, "an sich zu halten." (2) Deswegen sehnt man sich nach Objektivität. Man wünscht sich eine verlässliche Basis, auf der man Architektur bewerten kann, ohne sich auf das dünne Eis des Geschmacksurteils bewegen zu müssen. Diese Basis sucht man in der Wissenschaft. Man rechnet und misst. "Die neuen Städtebauer werden als Entwerfer und Gestalter auftreten, zuvor aber als Forscher und Wissenschaftler", ihre Arbeit ist "die objektive Erhebung von umweltrelevanten Daten." (Lampugnani). Andere nutzen, um ihre Entwürfe zu erklären, ein Vokabular, das Objektivität verspricht, weil es medizinisch oder naturwissenschaftlich konnotiert ist: Halbwertszeit, Parasit, Akupunktur, Adaption, Transplantation.

Zwei Pole
Dieser Wunsch nach objektiven Kriterien ist verständlich. Er ist auch nicht falsch, im Gegenteil, er erfüllt eine wichtige Funktion. Er ist die Grundlage in einem kommunikativen Prozess, er hilft, subjektive Entscheidungen zu vermitteln. Das Bemühen um Objektivität hilft dabei, sich über Gestaltung zu verständigen, mit der viele leben müssen. Es verhindert, dass teure und folgenreiche Fehler begangen werden. Aber die Sehnsucht, es werde eine erschöpfende objektive Bewertung von Architektur geben können, wird nie erfüllt werden. Architekten wissen das. Auch die meisten Bauherren würden wahrscheinlich, wenn man sie dazu nötigte, ernsthaft darüber nachzudenken, sich kein Haus wünschen, das ohne subjektive Entscheidungen entstanden ist. Es würden sich wahrscheinlich die wenigsten eine Stadt wünschen, in denen sich die Architektur lediglich den Ansprüchen genügen will, objektiv richtig zu sein.

Das Streben nach Objektivität hilft, sich zu verständigen. (Bild: Christian Holl) 

Trotzdem wird selten reflektiert, was Objektivität leisten kann, was an diesem Begriff fasziniert. Das liegt wahrscheinlich im Wort selbst und dem, was man damit verbindet, begründet. Etwas, das objektiv ist, ist es immer schon gewesen: "Wir fliehen das Subjektive, unter dem Druck der Überzeugung, dass alles, was es gibt, an sich, also unabhängig von jeder Perspektive, irgendwie sein muss", so Thomas Nagel. (3) Diese Überzeugung macht allerdings blind dafür, dass unser Verständnis von Objektivität zum einen ein geschichtliches ist und zum anderen das Individuum ausblendet. "Objektivität verlangt nicht nur, die eigene, individuelle Perspektive aufzugeben, sondern sie erfordert auch, dass die spezifisch menschliche Sichtweise ja sogar die für Säugetiere charakteristische Perspektive (...) überwunden wird", so Nagel. In eine solche Perspektive lässt sich aber nicht alles integrieren, wodurch wir Welt erfahren. Sie bleibt immer unvollständig, da sie etwa die Sicht nicht anerkennt, mit der wir die Identität unserer Persönlichkeit erleben. Nagel plädiert deswegen dafür, Objektivität nur als Teilansicht dessen, was wir wahrnehmen können, zu verstehen, und zu akzeptieren, dass "die Dinge nicht nur auf eine einzige Weise existieren." Nagel nennt diese Koexistenz die unerschütterliche Tatsache des Lebens. Objektivität und Subjektivität gelte es als Pole zu verstehen, zwischen denen wir uns bewegen sollten. Das hieße, das Ziel aufzugeben, "letzten Endes alles zu vereinheitlichen." (siehe hierzu auch den Beitrag von Ursula Baus über Pluralismus)

Objektivität: Der Blick von Nirgendwo. (Bild: Christian Holl) 

Neuzeitliche Abstraktionsleistung
Nagels Objektivitätsbegriff als einer Perspektive auf die Dinge ohne Position (eines von Nagels Büchern trägt den Titel "Der Blick von Nirgendwo"), war aber nicht immer allen Menschen so geläufig wie uns heute. Es ist einer der Neuzeit. Hans-Georg Gadamer hat darauf hingewiesen, dass die Kühnheit von Galilei darin bestand, zu behaupten, "dass alles, was fällt, nach den gleichen Gesetzen fällt und gleichschnell fallen würde, wenn es den Luftwiderstand nicht gäbe. (...) Solches Abgehen vom Augenschein war die eigentliche neue Kühnheit mathematisch konstruktiven Denkens, das wir moderne Wissenschaft nennen." (5) Wir sind derart vertraut mit dieser Abstraktionsleistung, dass wir vergessen, dass es andere Gesellschaften gab. Gesellschaften, in denen Menschen überhaupt nicht auf die Idee kamen, eine von der Position des Menschen unabhängige Beobachtung oder Messung vornehmen zu wollen – und das nicht nur, weil sie die Instrumente dafür nicht besessen hatten.

Der Traum von der ahistorischen Natur
Der Grund für dieses Vergessen ist der gleiche wie der, der einen Teil der Faszination von Objektivität ausmacht: das Versprechen, ungeschichtlich zu sein. Weil Fall- und andere Naturgesetze ungeschichtlich sind, werden wir zur Illusion verleitet, diese Qualität lasse sich übertragen. Rorty interpretiert Objektivität in diesem Sinne gesellschaftlich. Er vertritt die These, "das Streben nach Objektivität sei zum Teil eine verhüllte Form der Angst vor dem Tod unserer Gemeinschaft". (5) Das ist erklärungsbedürftig. Seiner Meinung nach sind wir dazu verleitet, zu glauben, durch Objektivität ließe sich herausfinden, worin unsere und "jede andere wirkliche und mögliche menschliche Gemeinschaft übereinstimmen." Gesucht wird dabei nach einer ahistorischen menschlichen Natur, auf der eine Gemeinschaft gegründet werden könnte. Kann sie gefunden werden, dann müsste sie sich, da ahistorisch, immer wieder finden lassen. Das tröstet: Denn dann wäre es möglich, "die Tugenden, Erkenntnisse und Leistungen, die der Gemeinschaft Ruhm eingetragen haben, wiederzugewinnen, selbst wenn unsere Zivilisation vernichtet wird, ja selbst wenn alle Erinnerungen an unsere politische, intellektuelle oder künstlerische Gemeinschaft ausgelöscht werden." Dem mag sich Rorty nicht anschließen. Er macht darauf aufmerksam – und das sollte gerade Architekten interessieren –, dass man damit die Potenziale blockiert, andere, "interessantere" Dinge zu tun, dass wir uns damit verbieten zu denken, dass wir auch andere Personen sein könnten.

Das Streben nach Objektivität darf nicht dazu führen, dass wir uns auf das beschränken, was bekannt ist. (Bild: Christian Holl) 

Anwendbare, objektive Kriterien helfen uns, zu bekommen, "was zu wollen wir vorher schon entschlossen waren" (6) – aber sie beschränken uns auch darauf. Damit wird all das ausgeschlossen, was unter Verdacht gestellt werden kann, nicht Teil der ahistorischen Natur des Menschen zu sein. Rorty hält es lieber mit Nietzsche und dessen Mahnung, nicht zu vergessen, dass die Wahrheit nichts anderes sei "als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken." (5) Das lässt sich nun ohne weiteres auf die Gestaltung übertragen. Einen subjektiven Zugang zur Geschichte zu suchen ist dadurch ebenso legitimiert wie die Offenheit fürs Experiment. Damit ist das jeweils einzelne Ergebnis noch nicht notwendigerweise auf Dauer sinnvoll, allerdings lässt sich das nicht a priori deduzieren. Es geht nicht darum, Subjektives gegen Objektives auszuspielen, sondern sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie wir mir dem, was die Begriffe bedeuten, umgehen können. Es frei, variabel und im Bewusstsein seiner Grenzen und Möglichkeiten zu tun, könnte sich lohnen – noch einmal Thomas Nagel: "Wenn wir dafür sorgen, dass weder das Objektive vom Subjektiven noch das Subjektive vom Objektiven verschluckt werden kann, dann sollte es der Kreativität dienen."

Die Zitate sind folgenden Quellen entnommen:
(1) Vittorio Magnano Lampugnani: Langfristige Stadtkultur statt kurzfristige Funktionserfüllung. In: Mäckler, Sonne (Hg.): Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt, Band 1. Zürich 2011
(2) Ulf Poschardt: Wir sind ja so modern! Die Welt, 1. Juli 2012
(3) Thomas Nagel: Die Grenzen der Objektivität. Philosophische Vorlesungen. Stuttgart 1991
(4) Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens. Stuttgart 1999
(5) Richard Rorty: Solidarität oder Objektivität. Drei philosophische Essays. Stuttgart 1998
(6) Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1992

Weitere Lesetipps:
Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt  am Main 1990
Thomas Nagel: Der Blick von nirgendwo. Frankfurt am Main 1992
Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003

Serie Diskursbegriffe – bisher erschienene Beiträge:
Ursula Baus: Pluralismus 12|48
Ursula Baus: Algorithmus 12|16
Christian Holl: Urban Gardening 12|11
Ursula Baus: Utopien 12|4
Ursula Baus: Geschichte 11|46
Werner Girgert: Creative Class 11|45
Robert Kaltenbrunner: Massenkultur 11|35 und 11|41
Christian Holl: Dichte 11|40
Ursula Baus: Kontinuität 11|22
Christian Holl: Pop 11/20
Robert Kaltenbrunner: Nachhaltigkeit 11|16
Ursula Baus: Neue Begriffe, neue Räume 11|2
Christian Holl: Spatial Turn 10|43

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