Scherenschnitt in Stahlbeton

Wurm+Wurm
5. August 2015
Wie ein Schirm steht die Betonfassade vor dem Gebäude, als monumentale Struktur die alles Dahinterliegende optisch wegfiltert. (Foto: Ester Havlova)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Der Name Neutra-Halle ist ein Relikt aus der Zeit vor der Wende. In der ca. 10 m hohen Halle befand sich eine chemische Neutralisierungsanlage. Die Industriebrache liegt in einem heterogenen Umfeld zwischen dem modernen Gewerbegebiet Jena-Göschwitz an der A 4 und dem alten Stadtteil Burgau. Die ehemaligen Industriegebäude werden nun sukzessive revitalisiert. Anstelle des Abrisses geht die Investorin und Eigentümerin Christoplan aus Garching bei München bewusst den Weg, die Tragstruktur zu erhalten. Die bis auf das Skelett und das Dach entkernten Gebäude werden von Grund auf verwandelt und einer neuen Nutzung zugeführt. Die Anlagengruben der eingeschossigen Industriehalle wurden verfüllt und auf eine neue Bodenplatte ein eigenständiges Betontragwerk gestellt, das seinerseits wiederum das alte Tragwerk stabilisiert. Das alte Tragwerk und seine neue Prothese bilden zusammen ein transformiertes Tragsystem, welches alle normativen und zeitgemäßen Anforderungen an Standsicherheit und Brandschutz erfüllt.


 

Frei vorgestellte Fassade aus Betonfertigteilen mit scherenschnittartigen Öffnungen, die sechseckig sind im Gegensatz zu den rechtwinkligen Fensteröffnungen der inneren Pfostenriegelkonstruktion. (Foto: Ester Havlova)
Die historische Baustruktur des Stadtteils Burgau befindet sich in unmittelbarer Nähe, wodurch ein Wechselspiel mit der zeitgemäßen Formensprache der Fassade entsteht. (Foto: Ester Havlova)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Die Randlage zum Gewerbegebiet, zur teilweise historischen Baustruktur des direkt angrenzenden Stadtteils Burgau sowie die Nähe zur Saale mit ihren grünen Auen sind eine städtebauliche Herausforderung. Durch hochwertige, architektonisch fein gegliederte Fassaden wurde die typische Stahlsandwichpaneeloptik, die solchen „Refugien der Arbeit“ oft anhaftet, umgangen und so auf die angrenzende historische Bebauung vermittelnd gewirkt. Ziel des städtebaulichen Konzeptes sind Solitäre im Grünen, die Fläche für technologieorientierte Unternehmen bieten. Diese Firmen benötigen multifunktionale Flächen für Büros, Produktion, Werkstätten und Forschung. Die Grundrisse sind so offen in ihrer Struktur, dass sowohl die Nutzungen, als auch die Größe der Nutzungseinheiten variieren können.

Das Treppenhaus aus Ortbeton tritt als deutlich sichtbares Volumen aus der Fassade hervor (Foto: Ester Havlova)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Die Unterscheidung in klassische Bürofassaden und Fassaden aus dem Hallenbau funktioniert bei diesem Hybriden nicht, da Inhalt und Form oft nicht deckungsgleich sind. Außerdem variieren sie je nach Mieter und beim Nutzerwechsel, bzw. die Nutzer können sich nicht mehr auf die vorgegebene Nutzung festlegen, da sich auch deren Arbeitsprozesse ständig wandeln. Das erfordert wiederum neutrale, nutzungsoffene Grundrisse. Daher hat man sich für den Bau zweier Fassadenebenen entschieden: Innen sitzt eine Aluminium-Pfostenriegelkonstruktion mit den üblichen Glaselementen und Sandwichpaneelen, nach einem Raster ausgestattet mit Anschlussmöglichkeiten für Innenwände oder Bürotrennwände. Frei davor gestellt wurde eine Fassade aus Betonfertigteilen mit scherenschnittartigen Öffnungen, diese sind sechseckig im Gegensatz zu den rechtwinkligen Fensteröffnungen der inneren Pfostenriegelkonstruktion. Wie ein Schirm steht die Betonfassade vor dem Gebäude, als monumentale Struktur die alles Dahinterliegende optisch wegfiltert.

Die frei vorgestellte Fassade aus Betonfertigteilen besitzt mit scherenschnittartigen, sechseckige Öffnungen, die einen weiten Blick in die Auen der Saale ermöglichen (Foto: Ester Havlova)
 
Gewerbegebiet und historische Baustruktur des angrenzenden Stadtteils Burgau (Foto: Ester Havlova)
Dezent macht der Eingang zum Gebäude lediglich durch einen etwas größeren Ausschnitt in der Fassade auf sich aufmerksam. (Foto: Ester Havlova)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Die ursprüngliche Idee, die Betonfassade in Ortbeton zu fertigen, musste wegen technologischer Überlegungen aufgegeben werden. So entschied man sich für eine Fassade aus Betonfertigteilen. Mit dieser war es möglich, die feingliedrigen Betonstege dieser Struktur umzusetzen. Beim Entwurf waren uns die Feingliedrigkeit der Betonstruktur und der hohe Lochanteil wichtig. Ebenfalls von Bedeutung war der gezielte, schlierenfreie Regenwasserabfluss, durch nach innen geneigte Brüstungen aller Sechsecköffnungen. Keine Blechverwahrung sollte die Betonstruktur verschandeln. Auch das Aufbringen von Betonspachtelung war für uns ein Tabu.

In der Dämmerung kehr sich die Fassade nach außen, wodurch eine spannende Tiefenstaffelung entsteht (Foto: Ester Havlova)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

Mit werkseitig vorgefertigten Betonelementen war das Ergebnis sowohl in Farbe als auch Struktur homogen, da witterungsunabhängig, in gleichbleibender Betonqualität, gefertigt werden konnte. Aufwändige Schalgerüste, die auch innenseitig notwendig gewesen wären, entfielen. Die Fassadenmontage der Elemente konnte mittels Kran erfolgen. Aus Sicht des Entwurfs war und wichtig, dass die Betonfertigteile scharfkantig hergestellt konnten. So konnte das Fugenbild der einzelnen Elemente sorgfältig und genau auf das Lochbild abgestimmt werden.

Lageplan (Zeichnung: Wurm+Wurm Architekten Ingenieure)
Grundriss Erdgeschoss (Zeichnung: Wurm+Wurm Architekten Ingenieure)
Schnitt (Zeichnung: Wurm+Wurm Architekten Ingenieure)
Vor der Transformation 1/2 (Foto: Robert Wurm)
Vor der Transformation 2/2 (Foto: Robert Wurm)
Neutra-Halle
2014
Ernst Ruska Ring 23
07745 Jena

Nutzung
Büro und Montage

Auftragsart
Direkt Beauftragung

Bauherrschaft
Christoplan GmbH

Architektur
Wurm+Wurm Architekten Ingenieure, Bühl

Fachplaner
Elektro: Ingenieurbüro Andre' Reimann IB für Technische Gebäudeausrüstung, Gera
Heizung Sanitär: Fachplanung Schulze Ingenieurbüro Haus- und Versorgungstechnik, Dobitschen 
Vermessung: Dipl-Ing Roland Wuttke; Jena
Bauleitung: Ingenieurbüro Hirsch & Grohmann, Jena

Ausführende Firmen
Abbruch: Gebr. Kirchner, Elxleben
Aufzug: Schmitt + Sohn Aufzüge GmbH, Chemnitz
Außenanlagen: Bohlen + Doyen Bauunternehmung GmbH, Alsfeld-Erfurt
Gartenanlagen: Boock, Jena
Betonvorsatzschale: Max Bögl Fertigteilwerke GmbH & Co.KG, Gera
Bodenleger: Raumausstattung Grimm, Pößneck
Estrich: Amthor Aktiengesellschaft Bauunternehmen, Weimar
Dachabdichtung: Holl Flachdachbau GmbH + Co KG, Hohenleuben
Fenster: LBJ Leichtmetallbau GmbH, Jena
Hohlraumboden: GMI Bodensysteme GmbH, Niedernberg
Innendämmung: Mazura Baugeschäft GmbH, Ottendorf
Rohbau: H. Nagelschneider GmbH & Co.KG Bauunternehmung, München
Schlosser: Metallbau Schimmel GmbH, Buttstädt
Schalung Treppenhaus: PERI GmbH, München
Trockenbau: Im-Bau Montagen GmbH, Gera
Bodenbeschichtung Treppenhaus: Planphalt GmbH, Jena
Elektro/Heizung/Sanitär : ASI Anlagen Service GmbH, Jena

Bruttogeschossfläche
1.472 m²

Gesamtkosten
1.900.000 €

Fotos
Fertiges Gebäude: Ester Havlova
Gebäude vor dem Umbau: Robert Wurm

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