Wer hat eigentlich "rechter"?

Gert Kähler
8. Dezember 2010
Bilder des Protests in Stuttgart gehen um die Welt. Die Fotografien in diesem Magazin-Beitrag präsentierte Andreas Langen (Arge Lola) erstmals in der Ausstellung www.gegenlicht21.de. 
Protestanalyse im Norden

Alles begann, jedenfalls aus nördlicher Sich, 2009: Künstler und andere "Kreative" besetzten die letzten Reste des Gängeviertels in Hamburg: "Unter der Schirmherrschaft des Malers Daniel Richter drangen sie am Sonnabend in die seit Jahren verrammelten Gebäude ein und richteten Galerien, Ateliers und Kunsträume ein. Sie wollten damit 'auf dringend benötigten Raum für Hunderte von Kreativen' aufmerksam machen. Außerdem wollen sie die historischen Gebäude vor dem Verfall retten", schrieb das Hamburger Abendblatt am 23. August 2009. Man mag sich fragen, warum eine Hausbesetzung eines "Schirmherren" bedarf; man wird auch fragen dürfen, wieso man "Kreativen" zubilligt, was man Anarchos oder Migranten sicher nicht zugestanden hätte, nämlich die illegale Besetzung von Häusern. Tatsache aber war, dass ein verfallenes Quartier mit einer allenfalls sozialhistorischen, keinesfalls jedoch mit einer architekturhistorischen Bedeutung, besetzt wurde, obwohl ein Investor bereit stand, das Quartier zu sanieren. Das Grundstück war ordnungsgemäß verkauft, der Denkmalschutz beteiligt worden, die Um- und Neubaupläne genehmigt. Trotzdem standen die Bevölkerung und die lokale Presse auf der Seite der illegalen Besetzer. Der alte APO-Spruch "Legal, illegal, sch...egal" kam zu neuer Bedeutung.

Der Polizeieinsatz gegen die Demonstranten in Stuttgart zeigte die Nervosität der Behörden, die Proteste nicht gewöhnt sind. (Foto: Andreas Langen, Arge Lola, www.gegenlicht21.de) 
Planung trifft Planung

Ein zweiter Schritt folgte: Ein Bauvorhaben wurde projektiert – architektonisch solide und bescheiden, sich in die Umgebung einfügend, keineswegs auftrumpfend, auf der Grundlage eines gültigen Bebauungsplans konzipiert. Ein Bebauungsplan hat lokale Gesetzeskraft; ihn zu entwickeln und vom Gesetzgeber zu verabschieden, bedeutet eine mehrfache, direkte Beteiligung der Bevölkerung. Diese Beteiligung geht darüber hinaus, dass wir in unserer repräsentativen Demokratie durch Wahlen Menschen bestimmen, die unsere Interessen vertreten. Diese Abgeordneten stimmen über den Bebauungsplan ab. Während dessen Erarbeitung wird aber das Volk zusätzlich gefragt: In einem ersten Schritt wird es aufgerufen, über Ziele und Alternativen zu diskutieren. Es gibt dann mehrere Wochen Zeit, Anregungen und Bedenken zu artikulieren. Danach wird der Entwurf des Bebauungsplans öffentlich ausgehängt – und wieder haben die Bürger Gelegenheit, ihren Senf dazu zu geben. Die Kommune ist verpflichtet, diesen zu beraten sowie mitzuteilen und zu begründen, was aus den Eingaben geworden ist. Selbst wenn Einwände abgeschmettert wurden, kann man noch vor Gericht ziehen.

Auch Befürworter von Stuttgart 21 sprachen sich deutlich gegen die Art und Weise aus, wie die Politik in den Konflikten reagierte – die Polizei wurde auch am Stuttgarter Landtag positioniert. (Foto: Andreas Langen, Arge Lola, www.gegenlicht21.de) 
Demokratischer als demokratisch?

Nachdem beim Hamburger Beispiel das Verfahren durchlaufen war, gründete sich eine Bürgerinitiative und erwirkte – ebenfalls durchaus den demokratischen verabschiedeten Gesetzen entsprechend – ein Bürgerbegehren mit dem Ziel, auf dem in Frage stehenden Grundstück einen Park anzulegen. Das Bürgerbegehren wurde durchgeführt, die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entschied für einen Park. Wahlbeteiligung: 23,34 Prozent. Heißt bei knapp 70 Prozent der Stimmen davon für den Park: rund 15 Prozent der Bevölkerung stimmte dafür, sieben Prozent dagegen. Den Anderen war die Frage egal. Kosten der Befragung: rund 200.000 Euro, die jetzt nicht mehr zur Verfügung stehen. Zum Beispiel für einen Park.
Wer ist eigentlich demokratischer? Derjenige Bürger, der sich an die bestehenden Gesetze hält und am Verfahren für die Genehmigung eines Bauvorhabens mitwirkt? Oder derjenige, der sich ebenfalls an die bestehenden Gesetze hält und nach Abschluss des Genehmigungsverfahrens dieses über eine Bürgerbefragung kippt? Wie veräppelt muss sich ein Bürger fühlen, der im Bebauungsplanverfahren seine Einwände so gut formuliert, dass diese berücksichtigt werden, und der dann hinterher erleben muss, dass das anderen Bürgern völlig egal ist? Übrigens könnte er sogar selbst im Bürgerbegehren gegen sein eigenes Votum stimmen. Und ein neues Bürgerbegehren nach dem ersten könnte dieses wiederum kippen – ad infinitum...

Der friedlichste Protest, den es in Stuttgart je gab, führte zu einem Polizeieinsatz, dessen Angemessenheit in Frage gestellt wird. (Foto: Andreas Langen, Arge Lola, www.gegenlicht21.de) 
Vorläufiger Höhepunkt: Stuttgart 21

Der Streit um "Stuttgart 21" ist längst tagesschaufähig geworden. Auch hier gab es ein Verfahren, in dem wohl alle gesetzlichen Vorgaben, alle Beteiligungschancen für das Volk eingehalten wurden: Die Abgeordneten von Stadt und Land, demokratisch gewählt, votierten mit "ja".
Und dann kam das Volk und votierte auf der Straße mit "nein". Wobei "das Volk" bei den größten Demonstrationen aus rund 50.000 Gegnern bestand, bei einer Einwohnerschaft Stuttgarts von 600.000 Einwohnern. Also aus knapp über acht Prozent. Die Wahlbeteiligung bei den letzten Gemeindewahlen lag definitiv höher – man darf gespannt sein, wie hoch sie bei den Landtagswahlen im März 2011 ausfällt.
Wir (das Volk) vertrauen euch (Politikern) nicht mehr.
Goethes "Zauberlehrling" wird zur Leit-(Leid-?)figur gewählter Abgeordneter: Sie haben, um dem Bürgerwillen zu entsprechen, Instrumente der direkten Demokratie eingeführt, deren Ergebnisse ihrem, der Abgeordneten, Willen zuwider laufen. Jetzt würden sie diese Form der Einmischung in ihr Demokratiegeschäft am liebsten wieder loswerden. Juristisch ist das eine Frage für den Staatsrechtler. Bertold Brecht schlug an der Stelle vor, ein anderes Volk zu wählen.
Denn das ist dumm und undankbar: Erst gewährt man ihm mehr Mitbestimmungsrechte. Und dann entscheidet es nicht so, wie es richtig ist. Das Grundgesetz weiß das und hält Elemente direkter Demokratie klein: Es ist Misstrauen, das man dem Volk entgegenbringt. Es könnten nämlich Entscheidungen getroffen werden, die wir nicht wollen dürfen: Todesstrafe, Ausländer raus, Minarettverbot, Abschaffung des Frauenwahlrechts.
Aber jenseits der verfassungsrechtlichen Problematik fragen wir uns, welche Stimme mehr zählt: Diejenige, die den Bebauungsplan begleitet hat und sich an dessen Aufstellung beteiligt hat, oder diejenige, die ihn hinterher in Frage stellt? Jenseits dessen gibt es noch andere Ebenen, die da heißen: Wir, das Volk, glauben Euch, den Politikern, kein Wort! Und: Lasst unser Wohnzimmer in Ruhe!
Die sogenannte Politikverdrossenheit ist tatsächlich nicht das Ergebnis von Verdrossenheit im Sinne eines Gefühls, dass alles egal sei und dass es uns, die Bürger, weder angehe noch interessiere. Es ist ganz im Gegenteil das Ergebnis eines besonderen Interesses an der res publica, am tua res agitur: hier, in der Stadt, in der Gemeinde wird Deine Sache verhandelt! Wenn die Bürger mit allgemeinem Desinteresse reagieren würden, dann würde sie keine Bürgerbegehren, keine Volksabstimmungen oder keine Demonstrationen organisieren, denn das alles kostet Zeit, Aufwand und Geld. Nein, dass Bürger auf die Straße gehen, anstatt sich eine Demo im Fernsehen anzusehen, dass zeigt: Wir sind engagiert. Wir sind wütend. Wir sind das Volk! Gert Kähler

Überlegungen über die tieferen Ursachen, warum gerade jetzt so viele Protestbewegungen entstanden sind, folgen kommende Woche als "Protest- und Planungskultur, Teil 2".

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