Was den Architekten die Geschichte angeht

Ursula Baus
16. November 2011
Laokoon, der als Einziger das trojanische Pferd als Trug erkannt haben soll, ziert in der Version mit langgetrecktem Arm den großen Lese- und Veranstaltungssaal der Bibliothek (Bild: Bernd Kulawik) 
Raum und Zeit

Er möge doch den Studenten bei der Vermittlung der Architekturgeschichte nicht mit Chronologie kommen, das sei dem Interesse der Studenten abträglich. Darum habe man ihn, so der Architekturgeschichtsprofessor Andri Gerber, an der Hochschule Liechtenstein gebeten. Was immer die Hochschulleitung von den Studenten denkt: Geschichte lässt sich ohne Chronologie, ohne eine Abfolge von Zeit nicht annäherungsweise begreifen. Chronologie impliziert natürlich keinerlei Entwicklungslogik. In Einsiedeln sprachen nun am Wochenende Historiker, Künstler, Architekten und andere darüber, "welche Geschichte" denn eigentlich derzeit verhandelt werde, genauer gesagt: Wie stehe es um die Moderne in der Architekturgeschichtsschreibung? 1910 erfunden, 1932 internationalisiert und nach 1945 banalisiert – diese schulbuchmäßig einfache Sicht wird beständig revidiert, hält sich aber hartnäckig. Was heißt es außerdem für Architekten, wenn die normativen Kanon-Werke der Architekturgeschichte ins Wanken geraten? Oder als mehr oder weniger willkürliche "Setzungen" entlarvt werden? Dass gerade der Kanon eine überaus fragwürdige Konstruktionseinheit der Geschichte ist, weiß man schon lang – und so stellt sich die Frage, was statt dessen kommen kann.

Emil Kaufmann, Manfredo Tafuri, Nikolaus Pevsner, Reyner Banham: Couragierte Konstrukteure einer Geschichte der Moderne. 
Zweierlei Geschichte – von Architekten und Historikern

Werner Oechslin erinnerte an Colin Rowe: Der hatte den Wissensbereich der Architekturgeschichte in fataler Weise aufgespalten in jenen, der für Architekten interessant sein soll und "Nutzwert" hat, sowie jenen, in dem die professionellen Historiker wer weiß welche Erkenntnisse zutage fördern. Dazwischen mäandern Kulturkritiker (wie der in Einsiedeln die "Machart von Klassikern" offenbarende Georg Franck), die mit pauschalen Urteilen über geschichtliche Phänomene dem vernünftigen Diskurs keinen guten Dienst erweisen. Architekten – das zeigte sich, als der Genfer Architekt François Carbonnet seinen Wettbewerbsbeitrag für das Musée Cantonal des Beaux Arts in Lausanne als eine Art Vorschau auf den endgültigen Endwurfsprozess präsentierte – nehmen sich daneben als "Kreative" unbefangen einzelne Partikel oder ganze Epochenbilder aus der Architekturgeschichte. Sie deuten damit an, was aus eigenen Entwürfen werden kann. Einen Prozess ins Wettbewerbsrennen zu schicken, ist riskant – muss doch die Verheißung wettmachen, was mangels konkreter Festlegungen im Ungefähren bleibt. Architekten parodieren bekanntlich auch gern die Werke und Themen ihrer Vorfahren. Der Blick von Anne Kockelkorn auf das Wohnprojekt "Abraxas", das Riccardo Bofill 1983 vor den Toren von Paris gebaut hat und das eventuell abgerissen wird, ließ die Diskrepanz zwischen Geschichte, die unmittelbar erlebt wird, und Geschichte als akademischer Disziplin drastisch erkennen.

Wettbewerbsbeitrag von Made in Sàrl für das Musée Cantonal des Beaux Arts in Lausanne: Prozesse statt konkrete Entwürfe sollten als Wettbewerbsbeiträge alsbald reüssieren. (Bild: François Charbonnet, Made in Sàrl, Genf) 
Geschichte und Gegenwart

Der Künstler und Architekt Ronny Hardliz überraschte mit einer erfrischenden Mischung aus Vortrag und Performance, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer "Nicht-Konstruktion" fabelhaft zusammenzuspannen. Gar so einfach, wie Jürg Sulzer (Stadtforscher in Görlitz) es vortrug, lässt sich derweil das Begriffspaar "zeitgemäß" und "zeitgenössisch" nicht auseinander dividieren. Beides sind Begriffe, mit denen Studenten im Entwurf tagein, tagaus konfrontiert sind. Um die Gegenwart des Geschichtlichen an den Hochschulen zu vermitteln, haben sich – so beklagte auch Bruno Reichlin – in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Usancen ausgebildet: In Italien betreiben Architekten die Architekturgeschichte, die mit akribischer Forschung nicht sonderlich vertraut sind, und in Deutschland sind es weitgehend Kunsthistoriker, die nicht recht wissen, was Architekturstudenten in ihren Köpfen und Herzen bewegt. So musste man die Frage "Welche Geschichte?" in Einsiedeln furchtlos offen lassen, denn weite Bereiche dessen, was uns als Geschichtswissen vorgegeben wird, muss als Inszenierung gelten und ständig hinterfragt werden. Das macht Freude und begeistert Wissbegierige.

Ronny Hardliz (lks.) und Bruno Reichlin beim V. Architekturgespräch in Einsiedeln (Bild: Bernd Kulawik) 
Das Programm der Bibliothek

Die Gespräche, die seit 2008 in kleinen, international und interdisziplinär besetzten Kreisen in der Bibliothek geführt werden, wird es auch zukünftig geben. Laurent Stalder (Professor für Architekturtheorie am Institut gta der ETH Zürich) möchte die kontrovers geführten Auseinandersetzungen noch mehr fördern. So soll es künftig zwei Gespräche jährlich geben: ein Architekturgespräch und ein Architektengespräch. Bei den – nicht öffentlichen – Architektengesprächen sollen 5 bis 6 Architekten ihre Entwürfe beziehungsweise Wettbewerbsbeiträge diskutieren, bei den öffentlichen Architekturgesprächen wird es wie bisher um aktuelle Fragen der Architekturentwicklung und -geschichte gehen, allerdings an zwei statt bisher drei Tagen. In den Architekturgesprächen sollen auch mal "Architektur und Finanzen" und "Architektur und Öffentlichkeit" diskutiert werden, wobei dann auch Vertreter anderer Disziplinen zu Wort kommen. In diesem Programm wird die Absicht, Geschichte in ihrer Gegenwärtigkeit zu begreifen, überdeutlich. Architektur kann davon nur profitieren. ub

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