Von Keilen und Kristallen

Christian Holl
26. Oktober 2011
Das Militärhistorische Museum in Dresden. Libeskind wollte "eine grundlegende Störung schaffen, um die Wahrnehmung zu verändern." Das ist ihm gelungen. (Bild: Holzer Kobler Architekturen/ janbitter.de) 

Für Architekten ist der Umgang mit Geschichte nicht einfach. "Da es das Geschäft der Historie ist, Veränderungen zu beschreiben, bevor sie Erklärungen vorzuschlagen wagt, stößt sie jedoch schnell auf widerständige Reste, Eigensinniges, Nicht-Integrierbares", so der Historiker Osterhammel. Architekten haben ihre eigene, weniger bescheidene Weise, Veränderungen zu beschreiben: mit Gebäuden. Realisiert sind diese selbst Teil der Veränderung – Gebäude sagen, was sein soll und wie ihre Entwerfer das Vergangene und das Gegenwärtige bewerten: "Es ist eine Illusion, zu glauben, Geschichte hätte nichts mit Begehren zu tun", so der Schriftsteller Ulrich Peltzer – das gilt gerade für Architektur. Eigensinniges und Nicht-Integrierbares gibt es aber auch hier.

Alt und Neu in Dresden in wirkungsvollem Kontrast; hier die Sektion "Krieg und Spiel". Das Neue ist aber, anders als ein echter Keil, sorgfältig um das Alte gelegt. (Bild: Holzer Kobler Architekturen/ janbitter.de; Schnitt: Holzer Kobler Architekturen) 
Militärhistorisches Museum in Dresden

Am 14. Oktober wurde in Dresden das Militärhistorische Museum der Bundeswehr eröffnet. In der Stadt, die durch ihre Zerstörung, durch die Frage nach Schuld und Opfer ein sinnbildlicher Ort für die Ambivalenz der Gewalt geworden ist und die in ihrem heutigen Zustand für den vergeblichen Versuch steht, diese Ambivalenz durch Retro-Kulissen unsichtbar zu machen. Marzipanschweinchen machen nicht satt.
Es war eine heikle Aufgabe, mit der Architekten hier konfrontiert wurden: Ein Thema zu finden, das die Geschichte des Militärs nicht heroisiert, und trotzdem dessen Bedürfnis nach Repräsentanz achtet. Im Wettbewerb 2001 siegte Daniel Libeskind, der bekanntermaßen keine Furcht vor dem Wind der Geschichte kennt. Sieben Jahre wurde das Arsenalgebäude von 1876, mit einer neobarocken Fassade vom Selbstbewusstsein des damals neuen Nationalstaats strotzend, umgebaut. Nun streckt sich asymmetrisch, die Fassade zerteilend, ein spitzer Keil dem Besucher entgegen. Stegplatten aus dem Gerüstbau sorgen je nach Blickwinkel für Transparenz oder kompaktes Volumen, von innen her kann man hinaus auf ein Podest in etwa 30 Metern Höhe treten und auf die inzwischen restaurierte Stadtsilhouette Dresdens blicken.
Diese Spitze ist Teil eines Keils, der das bestehende Gebäude durchdringt – im übertragenen Sinne, in der räumlichen Konsequenz, in der Ausstellungsgestaltung. Im Bestand wird die chronologische Erzählung untergebracht, im Keil finden sich die thematischen Überblicke der Geschichte. Hier ergeben sich abwechslungsreiche Blickbeziehungen, die Ebenen sind immer wieder durch mehrgeschossige, "vertikale Vitrinen" durchbrochen. Die Ausstellungsarchitekten wussten das Potenzial dieser Räume zu nutzen und die Militärgeschichte als Teil der Menschheitsgeschichte anschaulich darzustellen, zumeist ohne emotional überwältigen zu wollen. (Szenografie und Ausstellungsarchitektur: Holzer Kobler Architekturen und HG Merz Architekten Museumsgestalter). Hier wird die Militärgeschichte weder heroisiert noch verdammt.

Im Innern ist das Museum komplexer als die nach außen getragene Geste. Vertikale Vitrine im Erdgeschoss und Grundriss 1. Obergeschoss. (Bild: Holzer Kobler Architekturen/ janbitter.de; Grundriss: Holzer Kobler Architekturen) 
Was sagt ein Keil?

Die Architektur scheint eindeutiger sein zu wollen. Ein Gebäude mit einer solchen Geste fordert Deutungsversuche. Libeskind wollte "eine grundlegende Störung schaffen, um die Wahrnehmung zu verändern." Das ist gelungen, die Wirkung beeindruckend. Das Museum fordere eine emotional und intellektuell erneuerte Sicht auf die Geschichte, die neue Fassade entspreche der Offenheit der demokratischen Gesellschaft, in der sie entstand, so ist in den Pressemitteilungen zu lesen. Das klingt nach skepsisfreiem Positivismus, nach dem Pathos der Avantgarde. Hier wird die Semantik des radikalen Bruchs, des Neuen, der Störung verwendet. Die sich aber im Museum nur dann wiederfindet, wenn man die in der Ausstellung angelegten Kontinuitäten übersehen will. Auch Gewalt des demokratischen Staates ist Gewalt. Auch das Neue, das das Alte zerstört, zerstört. Die neue Architektur sucht nicht die Auseinandersetzung mit der alten, sondern die Konfrontation. Der Keil ist ein Zeichen der Aggression, die überhöht und ästhetisiert wird. Ist das der intellektuell erneuerte Blick auf die Geschichte?
Letztlich ist es auch eine Schwäche des Neubaus, dass das Zeichen uneingelöstes Versprechen bleibt. Denn tatsächlich legt sich der Keil um den Bestand, dringt aber nicht in das vom Denkmalschutz gestärkte, widerspenstige Material ein, wie in Nürnberg Domenigs Dokumentationszentrum in die NS-Kongresshalle. Die Architektur in Dresden formuliert nicht das gebrochene Verhältnis zur Geschichte wie beim Jüdischen Museum in Berlin. In diesen Gesten, die (im Sinne des Wortes) nicht greifen, wird das Konkrete vom Symbolischen dominiert. Letztlich kann daher auch der Verdacht, dass es hier um die Marke Libeskind geht, nicht entkräftet werden.

Die neue Stuttgarter Stadtbibliothek, die sich allerdings meist weniger hell, in grauem Beton zeigt. (Bild: Brigida González; Grafik: Totems Communication Stuttgart) 
Stadtbibliothek in Stuttgart

Eun Young Yi ist der Architekt der neuen Stuttgarter Stadtbibliothek. Er hält es mit der Geschichte anders: "Wir sind Anfang des neuen Jahrtausends mit unserer Architektur an einen Punkt gelangt, wo es die Grundtypen der Architektur wieder zu entdecken und in ihren wesentlichen Eigenschaften neu zu interpretieren gilt. Unter Verzicht auf alle Nebensächlichkeiten oder überflüssigen Elemente sollten diese Prototypen dabei abstrakt betrachtet werden, um sie ganz auf ihre Kernaussage reduzieren zu können." Dies ist nicht das Geschichtsverständnis derer, die sich dafür einsetzten, dass das Hotel Silber, die ehemalige Gestapo-Zentrale im Stuttgarter Stadtzentrum, erhalten bleibt. Hier geht es auch nicht um einen neuen Blick auf die Geschichte, sondern um deren vermeintliche Essenz.
Die Bibliothek ist ein wichtiges, ein besonderes Haus für die Stadt und deswegen ein Solitär; sie wird die derzeit noch ungebauten Nachbarn um zwei Stockwerke überragen. Ursprünglich sollten auch Wasserflächen Distanz schaffen, sie sind eingespart worden. Oft ist von einem Würfel die Rede, das stimmt allerdings nicht ganz. 44 mal 44 Meter misst die Grundfläche, 40 Meter die Höhe. Die Attika bewirkt, dass das Gebäude eher noch breiter wirkt. Trotzdem ist die geometrische Grundform präsent: in den je neun mal neun Fensterfeldern der allseitig gleichen Betonrasterfassade, in deren Felder Glasbausteine hochformatige Öffnungen begrenzen. Dahinter liegt die eigentliche Gebäudefassade, der Zwischenraum ist als Umgang konzipiert. Auch das Innere reproduziert die auf der geometrischen Grundform aufgebaute Ordnung. So im innenliegenden "Herzen", dem viergschossigen, leeren, zentralen kubischen Raum von etwa 14 mal 14 mal 14 Metern. Der darüber liegende, fünfgeschossige Galerieraum öffnet sich nach oben wie eine Stufenpyramide. In diesen über mehrere Geschosse geöffneten Räumen entfaltet die Architekur suggestive Kraft.
Um diese achsialsymmetrischen Zentralräume legen sich in Schichten die Funktionsbereiche. Die Räume bleiben kühl und von bisweilen fast klinischer Sterilität – hier wird das Sinnliche durch das Konzept der Reduktion, den Willen, eine "Kernaussage" zu machen, dominiert. Das Äußere wirkt vergleichbar distanziert. Die Sichtbetonoberflächen tragen dazu ebenso bei wie konsequente Rigidität, von der eine unnachgiebige Härte ausgeht; verstärkt noch durch hochformatige Öffnungen, deren Maßstäblichkeit dem Baukörper die Abstraktheit nimmt, derer er bedurft hätte, um seine Kraft ganz zu entfalten.

Blick in den sich nach oben wie eine Stufenpyramide öffnenden Zentralraum, links vor der Anlieferung der Bücher. (Bilder: Brigida González) 
Der Kristall als Prototyp

Aber es geht im Angesicht der Jahrhunderte ja auch nicht um einnehmende Emotionalität. Die Reduktion auf geometrische Formen, auf eine von allen "Nebensächlichkeiten" befreite Urform der Architektur repräsentiert ideell deren bleibenden Wert. Dass die Referenz auf geometrische Grundfiguren beileibe nichts Neues ist, bestätigt nur, dass es um eine aus der Geschichte destillierte "Kernaussage" geht. Yi spricht in diesen Sinne von einem kirstallinen Körper – im Kristall sind die Atome oder Moleküle regelmäßig in einem Gitter angeordnet. Bemüht wird also einmal mehr "die Macht der Geometrie, die wenigstens vom grassierenden menschlichen Durcheinander entblößt zu sein scheint" (Ernst Bloch). Plastisch ist dies im aktuellen Umfeld, dem öden Brachland von Stuttgart 21, in dem die Bibliothek steht wie eine Fels und den Eindruck erweckt, als könnte sie auch noch dort stehen, wenn die erst zu errichtende Nachbarbebauung von Einkaufszentren und Büropalästen wieder verschwunden ist.
Die klare Ordnung der Bibliothek negiert (scheinbar) Veränderung und macht so die Veränderung ihrer Umgebung sichtbar. Sie wirkt aber auch selbst verändernd – und hier nistet sich das Eigensinnige ein. Die Idee des Gebäudes und seine Realität führen nämlich nicht nur zueinander kongruente Leben. Die offenen Fassadenfelder werden durch Netze vor Tauben geschützt werden müssen. Die Menschen werden die Ordnung stören, das Haus wird sich nicht der Zeitlichkeit entziehen, man wird auch dieses Haus einmal sehr genau einer Epoche zuordnen können.
Wenn das Museum in Dresden ein Manifest des neuen Blicks auf die Geschichte ist, dann ist die Stadtbibliothek eines des nie Neuen, immer schon Gültigen – auch dies ist eine Form des geschichtlichen Begehrens. Und auch das ist eine Form, der Auseinandersetzung mit der Geschichte, deren Zeichen und Zeugnisse uns umgeben und die wir sinnstiftend deuten müssen, aus dem Weg zu gehen. Aber die Wirklichkeit der Architektur wird sich auch hier nicht in ihrer Realität zum Zeitpunkt der Fertigstellung erschöpfen. Sie wird mit dem Eigensinnigen, dem Nicht-Integrierten eine neue und eigene Wirklichkeit entfalten, die nicht mehr die sein wird, die ursprünglich intendiert war. ch

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