Und wie schön ist noch die Welt

Ursula Baus
30. August 2010
 Wilfried Dechau

Gelegentlich sind wir die digitalen Orgien satt gewesen – aber es entstünde einer jener berühmten falschen Gegensätze, spielten wir die Kraft der Materie gegen das Virtuelle, gegen die konkrete Vorstellungskraft und die Träumerei aus. In Venedig laufen in diesem Jahr jedoch die Präsentationen, die von wirklichen Städten, Orten und Dingen erzählen, den computergenerierten Visionen, die weltumspannend ins Kraut schießen, mit teilweise betörendem Reiz den Rang ab. Kazuyo Sejimas Losung "People meet in architecture" gehört allen Cyberspace-Propheten ins Stammbuch geschrieben: Menschen begegnen sich in Städten, auf Plätzen und in Häusern immer noch am liebsten – ohne auf die Segnungen einer Kommunikation via Internet und Handybildchen verzichten zu müssen. Das aber heißt, dass man bei der Auseinandersetzung mit Stadt und Architektur ein Ziel nicht aus den Augen verlieren darf: dem Raubbau an der verstädternden, in weiten Teilen unbewohnbaren Erde Einhalt zu gebieten und dafür zu sorgen, dass Menschen genug Orte finden, an denen sie sich gerne zusammenfinden. Klingt selbstverständlich – ist es aber nicht.

Wilfried Dechau
Goldene Löwen

Die Biennale 2010 erweist sich deswegen nicht als Technologie- und Wissensdemonstration im Sinne traditionellen Wachstums- und Forschungsglaubens. Stattdessen haben viele der 53 Teilnehmer Sejimas Motto nur zu gern als Aufforderung begriffen, sich nicht bei Theorien, Simulationen und Animationen aufzuhalten, sondern mehr oder weniger geistreich, hand- und erfahrungsfest ans Werk zu gehen. Selten war eine der 12 Architekturbiennalen so nahe an einer Kunstausstellung. Und konsequent wurden deswegen auch Beiträge ausgezeichnet, die sinnliches Vergnügen bereiten.
Zu den Auszeichnungen: Rem Koolhaas erhielt den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Das Königreich Bahrain erhielt die Tiertrophäe für den besten Nationenbeitrag. Bahrain spielt im Kreis der bauwütigen Golfstaaten durchaus mit, erweitert sein Territorium wie Dubai ins Meer hinaus – transportierte aber einfache, ohne Architekten gebaute Fischerhütten nach Venedig. Das möge man in Bahrain, aber auch an vielen anderen Orten in Fernost, wo die bauwirtschaftliche Gigantomanie wütet, als Mahnung verstehen. Anderer Art – und das zeichnet Sejimas Konzept auch im Sinne offener Ergebnisse aus – ist, wie sich Junya Ishigami als professioneller Architekt mit dem Umbau des Château La Coste beschäftigte: Raum erkundet er wie Luft und notiert ihn nicht etwa als 3-D-Modell am Computer, sondern mit zarten Linien, die in den wirklichen Raum gezeichnet sind. Das ist unglaublich schön – aber einer Katze gefielen die zarten Gebilde als Spielzeug, so dass das Kunstwerk vorübergehend Schaden nahm.

Wilfried Dechau
Von da nach da – aber wie?

Freuen kann man sich in Venedig auch über die Selbstverständlichkeit, mit der Geschichte und Gegenwart in gebauter Wirklichkeit unterschieden und analysiert werden. Als "persönliches Inventar" ist dies im Schweizer Pavillon zu bestaunen: Jürg Conzett, intimer Kenner der Schweizer Verkehrswege (samt Trassierung, Brücken, Straßen, Stützmauern, Geländer), und der Fotograf Martin Linsi zogen durch den Alpenstaat und hielten in hervorragenden Schwarzweißfotografien die respektvolle Tradition fest, in der die Landschaft verändernden Verkehrsbauten hierzulande gebaut wurden – und manchmal noch werden. Das Kontrastprogramm dazu erschlägt im französischen Pavillon: Stadt als Moloch wird hier in Filmen präsentiert, die den täglichen Verkehrsstress in erschreckender Form zeigen. Das ist nicht neu, aber zum Thema "People meet in architecture" passt auch dies – als Abgesang zum Individualverkehr (zum Audi Award und weiteren Biennale-Begleitveranstaltungen gibt es in den Meldungen mehr zu lesen).

Wilfried Dechau
Wilfried Dechau
Gebaut ist gebaut

Was mit Ge- und Verbautem zu tun ist, das uns alle im öffentlichen Raum umgibt, beschäftigte erstaunlich viele Teilnehmer – sogar Rem Koolhaas in seiner Kritik an der Denkmalpflege seit dem 19. Jahrhundert und seinen Landsmann Ole Bouman, der im niederländischen Pavillon mit Rietveld Landscape unter dem Titel "Vacant NL" fünftausend leer stehende Bauten versammelt. Oder Caruso St. John und Thomas Demand, die ein 1:1-Modell des "Nagelhauses" für den Zürcher Escher-Wyss-Platz beisteuern; es ist der Nachbau eines Hauses in Chongqing, in dem sich eine chinesische Familie gegen Abrisspläne eines Einkaufszentrums wehrte. Oder die 2005 gegründete belgische Gruppe rotor, die im Pavillon ihres Landes Bauschutt und Sperrmüll wie elitäre Kunst inszenieren: Spuren der Benutzung werden hier als kunstvoller Wert geadelt. Diese Ästhetisierung des Abfalls lässt sich als klare Anklage an den kommerziellen Kunstbetrieb und an die Wegwerfmentalität der Bauwirtschaft deuten.
Im englischen Pavillon darf man sich in Venedigs Vergangenheit verlieren, die der Philosoph Wolfgang Scheppe in Fotografien eines Vaporetto-Schaffners und den venezianischen Notizbüchern John Ruskins zusammentrug.(Dazu erschien bei Hatje-Cantz das schöne Buch "Done.Book", ISBN 978-3-7757-2773-0, für 29,80 Euro im Buchhandel erhältlich).

Wilfried Dechau
Die Sehnsucht

Nein, nicht "Sissy-Bar", sondern "Sehnsucht" lesen wir in Neonschreibschrift am Pavillon, mit dessen Architektur sich das Trio walverwandschaften (Cordula Rau, Eberhard Tröger, Ole W. Fischer) laut eigener Aussage auseinandersetzten. Für gewiss viel Geld ließen sie eher braune als goldene Draperien für die Eingangsdekoration weben und den zentralen Raum mit rotem Stoff und schmaler Bordüre bespannen. An der Wand dieses "Roten Salons" hängen DIN A4-große Skizzen von Architekten, die ihre Vorstellung von der "Sehnsucht" zu Papier bringen sollten; an rund 300 Architekten hatten die walverwandtschaften diese Arbeit delegiert, 181 beteiligten sich. Wenn es das ist, was unsere Architekten umtreibt – oh weh. Ai Weiwei schickte ein Blatt mit einem Punkt drauf.
Für die seitlichen Räume ließen die Kuratoren Restexemplare aus "Erichs Lampenladen" (wie der Palast der Republik genannt wurde) nach Venedig transportieren, außerdem inszenierten sie einen Raum hell und den andern dunkel mit je einem Kunstwerk. Vor die Tür rechts hinten nach draußen in Richtung Lagune hängten sie eine Gardine. Atmosphäre? Naja, Bankfoyer vielleicht oder Themenhotel. Inspirierend? Nein, allenfalls fototauglich und ansonsten banal. Wenigstens im Katalog kann man dies oder jenes Lesenswerte zum Thema finden, wobei die taz von einer merkwürdigen Zensur berichtet, die wir in der Kürze der Zeit nicht verifizieren konnten. Gern senden wir noch einen Gruß an die Baunetz-Kollegen, die nicht nur live aus Venedig berichteten, sondern als "Medienpartner" des deutschen Auftritts schon im Vorfelde die Aufmerksamkeit auf das Thema "Sehnsucht" lenkten. Womöglich mit einem ernsthafteren Interesse als die Kuratoren.

Wilfried Dechau
Sentimental Journeys

Kazuyo Sejima presste die Idee, reale Orte in den Vordergrund der Biennale zu rücken, in ein scheinbar oberflächliches Motto. Gerade im Arsenale spürt man aber mit Leib und Seele, dass Häuser und Städte als reale Orte mehr Zuwendung verdienen als ihnen in den letzten Jahrzehnten geschenkt wurde. Schön und gut werden diese Orte, wenn nicht nur Handwerk oder Hightech als Garanten dafür beschworen werden, sondern Intelligenz, Fantasie und ein feines Gespür für das Besondere. Ursula Baus

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