Rethink Mies

Ursula Baus
2. November 2011
Stanley Tigerman ließ 1978 die Crownhall des IIT von Mies van der Rohe als Symbol der Moderne im Lake Michigan untergehen wie die Titanic im Ozean. (Bild: Stanley Tigerman, gezeigt im Vortrag) 
Revisionen

Ein Buchtitelbild: Der schachversierte Altkanzler Schmidt und sein Favorit Steinbrück merken nicht, dass das Schachbrett vor ihnen falsch rum liegt. Die Banker am Ende des Berufsrankings: Bei der Hypo Real Estate werden 55,5 Milliarden Euro unbemerkt falsch verbucht. Fehlleistungen und Krisen überall! Es wäre natürlich voreilig, solche Tagesereignisse wieder mal als Vorzeichen für den Untergang des Abendlandes zu deuten. Voreilig war auch Stanley Tigerman, als er 1978 Mies van der Rohes Crown Hall symbolisch versenkte. Über drei Jahrzehnte später ist Mies zur Gallionsfigur in der Baugeschichte avanciert, der die RWTH Aachen (Institut Architekturtheorie) ein dreitägiges Symposium widmete. Referenten aus Übersee in Ost und West flogen ein, Architekten, Historiker und Theoretiker gesellten sich zusammen – Mies van der Rohe sollte "neu gedacht" werden. Solche wissenschaftlichen Mammutveranstaltungen sind selten geworden, denn sie sind teuer und ziehen keine interessierten Massen mehr an – die scheint es hierzulande ohnehin nicht mehr zu geben.

Auftakt im Krönungssaal des Aachener Rathauses, Werner Sobek zur "neuen Sorgsamkeit". (Bild: Ursula Baus) 
Nichts Neues über Mies

Um es gleich zu sagen: Mies – Jahrgang 1886, Le Corbusier 1887 – kam bei der Tagung in seiner Geburtsstadt Aachen deutlich zu kurz. Über Phyllis Lambert als Tochter des Seagram-Chefs und Urgestein in der Mies-Forschung durfte man sich gewiss genauso freuen wie über Barry Bergdoll, der am MOMA u. a. das Mies-Archiv betreut. Aber Architekten scheinen, auch wenn man ihnen ein klares Thema stellt, in der Regel nichts anderes vortragen zu können als herkömmliche Werkberichte. So zeigte sich der junge Japaner Junya Ishigami begeistert von seinen "neuen Räumen", so schwelgte der betagtere Eduardo Souto de Moura rückblickend in seinem Oeuvre. Werner Sobek wählte sich mit der "neuen Sorgsamkeit" ein durchaus wichtiges Thema – aber was hatte das alles mit Mies zu tun? Anders als der prophetische Corbusier eignet sich der wortkarge Mies nicht recht als Feindbild konservativ Gesonnener. Mehr noch: Die Miesschen Prinzipien des einfachen Konstruierens eigneten sich in einer Übernahme in den weltweiten Baualltag durchaus. Was dann trivialisiert und banalisiert als Bauwirtschaftsfunktionalismus in aller Welt entstand, ist Mies nicht anzulasten; darin sind sich Architekten und Historiker seit langem einig. Mies' wackere Suche nach "Wahrheit" zwischen Aquin und Hegel blieb daneben im Obskuren und ließ sich ideologisch kaum angreifen.

Wilfried Kühn (Kühn Malvezzi) in der sonnendurchfluteten Nikolai-Kirche in Aachen: "Appropriating Mies". (Bild: Ursula Baus) 
Im Reigen der Klassiker

Doch gab es in Aachen natürlich Ausnahmen von der Rednerregel. Wilfried Kühn, praktizierender Architekt in Berlin und Professor in Karlsruhe, wies unter dem Titel "Appropriating Mies" mit Beispielen von Martin Kippenberger, Philipp Johnson, Stefan Wewerka, den Smithsons und Philippe Rahm darauf hin, dass es ja nicht um formale Aneignungstechniken gehe, wenn man sich mit Mies beschäftige. Viemehr wurde in Aachen ein Mal mehr deutlich, dass Künstler und Architekten – so geschichtslos kreativ sie sich auch geben mögen – der normalen Kontinuität der Weltläufte gar nicht entrinnen können. Mies van der Rohe, der technikbegeisterte, romantische Klassizist (Kenneth Frampton, 1980), der "Bürger zweier Welten" (Pehnt, 2010) ist längst in die Sphären der Klassiker aufgestiegen und wurde nun in Aachen, weil er zum Beispiel im Haus Tugendhat bereits eine Klimaanlage im Untergeschoss einbauen ließ, auch als Techniker gedeutet, der das Haus von der Natur abkoppelte und quasi als "Klimakapsel" konzipierte (so erläutert von Ole Fischer, der als Deutscher unbegreiflicherweise in Aachen englisch vortrug). An den "Klassikern" rüttelt man nicht mehr, sondern darf sie als fixierte Größen voraussetzen und ihnen Vorausschauendes zuweisen. Darf man wirklich?

Mies van der Rohe, mit Zigarre und Pantoletten auf einem Sofa, rechts: der Barcelona-Pavillon, seine Ikone der Moderne, mit einem Kunstwerk von Georg Kolbe (Bild: Wilfried Dechau) 
Geschichtswissen

Denn was wissen wir alles über Mies? Peter und Alison Smithson meinten bereits 1959: "Mies ist groß, aber Corb ist kommunikativ" – und brachten damit auf den Punkt, warum über Corbusier so viel mehr debattiert wurde und wird als über Mies. Stand in Aachen die inspirierende und alltagstaugliche Verwertbarkeit des Miesschen Erbes auf dem Programm (große Publikationen zu Mies gab es nach Grenzöffnung 1990 reichlich), taucht folgerichtig und nicht zum ersten Mal  die Frage auf, mit welchem Geschichtsverständnis wir überhaupt auf die Werke der Vorfahren schauen. Wie wir sie fortsetzen und weiterentwickeln dürfen. Wo wir anknüpfen sollten oder besser nicht. Die Grenzen, ab denen trivialisiert, banalisiert und hemmungslos verwurstet wird, sind fließend und markieren das Terrain der Kulturwissenschaftler und Kritiker. "Rethink, neu Denken", wie man es in Aachen andeutungsweise versuchte, setzt allerdings voraus, dass man um die Geschichte weiß. So darf man im Aachener Symposium ein Wetterleuchten des 5. Architekturgespräches erkennen, das nächste Woche in Einsiedeln unter dem Titel "Welche Geschichte?" in der Bibliothek Werner Oechslin geführt wird. Auch dort geht's erwartungsvoll hin – wir berichten! ub

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