Flugschule

6. September 2010
 
Grundlagen

Diesem Vergleich ist nicht auszuweichen: Der Raumpilot muss sich an der Bauentwurfslehre von Ernst Neufert messen lassen. Diese wurde 1936 zum ersten Mal aufgelegt – inzwischen ist sie in der 39. Auflage erschienen. Der Unterschied zwischen beiden Werken zeigt sich nicht nur im schieren Umfang – allein der erste Band des Raumpiloten hat mehr Seiten als der ganze Neufert, insgesamt sind es 1.591 – wenn auch das kleinere Format und das luftigere Layout diesen Vergleich hinken lassen. Aber auch der Anfang zeigt unterschiedlichen Haltungen: Der Neufert beginnt mit Normen, der Raumpilot mit der Anthropometrie. Auch im Neufert kommen im zweiten Kapitel die Maße des Menschen ins Spiel – allerdings wird hier von einem Menschen mit Durchschnittsmaßen ausgegangen, im Raumpiloten wird die mögliche Varianz der Maße aufgezeigt, mit denen man als Architekt lernen muss, umzugehen. Aufgebaut in die Abschnitte Grundlagen, Wohnen, Arbeiten und Lernen widmet sich der erste Band dem, was man am ehesten mit dem Neufert gleichsetzen könnte: den unverzichtbaren Grundlagen, ohne die das Entwerfen nicht gelingen kann. Maße, Regeln, Grundstrukturen, Typologien und Vorschriften werden anschaulich und übersichtlich dargestellt und zusammengefasst, in einem ausgewogenen Verhältnis aus Text und sorgfältig erstellten Grafiken.

Prinzipielle Ordnungsprinzipien, hier im Kapitel Arbeiten, Band 1 (Grundlagen)

Innerhalb der Planungsgrundlagen für das Wohnen und Arbeiten widmen sich die Autoren auch der Darstellung der flexibel zu nutzenden und nutzungsneutralen Räume, dessen also, was sich nicht durch die eine Funktion allein bestimmen lässt und doch zu gebrauchen sein muss, und doch funktionieren muss.
Bemerkenswert ist ferner zweierlei – trotz des Umfangs erhebt das Werk keinen Anspruch auf Vollständigkeit, alle Sondertypen, etwa Kirchen, Museen, Freizeitbauten und Krankenhäuser fehlen, auf Städtebau und Freiraumplanung wird ebenso verzichtet. Das macht deutlich, dass die Komplexität der einzelnen Bauaufgaben inzwischen eine Dimension erreicht hat, der in einer allgemeinen Lehre gerecht zu werden sehr schwer geworden ist. Und es ist zum zweiten im Grundlagenband kein vollständiger Grundriss eines Gebäudes abgebildet, dessen Darstellung dazu verleitet zu glauben, dabei handele es sich um einen beispielgebenden oder gar idealen Grundriss – gezeigt wird nur die Varianz struktureller Möglichkeiten, die prinzipiell verfügbar ist. Die Lehre: Man muss kennen und anzuwenden wissen, was hier zusammengetragen wurde, um keine Fehler zu machen. Aber nur weil man keine Fehler macht, entsteht noch keine gute Architektur. ch

Das Studium des Wohnens wird anhand von Grundrissen thematisiert.
Wohnen

Der Band "Wohnen" nimmt sich der Wohnungsthemen schwerpunktmäßig in einem einleitenden Teil Kontext, in 101 Grundrissen in 12 Kapiteln und in einem dritten Teil  Projekte an. Den Autoren geht es nicht um Typologie, sie kümmern sich nur am Rande um Städtebau, Innenausbau, Raum, Konstruktion oder Gebäudetechniken. Um Aspekte aufzufangen, die in diesen Zusammenhängen für das Wohnen relevant werden, ist im Buch ein Kapitel "Kontext" vorangestellt, in dem "Gesellschaft, Ökologie, Ökonomie, Intitiatoren und Ort" angesprochen werden; über Allgemeinplätze (demographischer Wandel, überalterte Gesellschaft, Investoreninteressen usw.) kommen die Autoren hier leider nicht hinaus. Es wird in diesem Kapitel auch eine Grunddisposition angesprochen, die man nicht mehr als zeitgemäß akzeptieren möchte: "Für jeden entwerfenden Architekten ist jedoch zunächst weniger der Bestand von Interesse, sondern der zukünftige Bedarf an Wohnraum." Zum einen sind Bestand und Bedarf nicht als Gegensatz zu manifestieren, zum zweiten kann die Wichtung zwischen beidem – unter ökologischen Aspekten – heftig bestritten werden. Eine Auseinandersetzung mit dem Bestand gehört zu den Hauptaufgaben kommender Generationen, für die im Zusammenhang mit dem Entwerfen in diesem Buch leider nicht genug Anregungen zu finden sind – sie ist allzu diffus als "Basis" angesprochen. Unter dem Stichwort "Ökologie" werden Emissionswerte von Wohnimmobilien losgelöst vom städtebaulichen Konzept vorgetragen, wobei jeder weiß, dass nachverdichtender, innerstädtischer Wohnungsbau und noch so hoch gedämmte Einfamilienhäuser jwd mit zugehörigem Pendelverkehr in ihrem CO2-Ausstoß nicht ohne weiteres verglichen werden können.
Die Autoren wählen dezidiert den Weg, Wohnungen aus dem Kontext zu lösen und daraus "möglichst objektive Lehraussagen treffen zu können" (Seite 31). Die Sortierung der Grundrissauswahl in Typen (7 Beispiele), Gestaltungsprinzipien (8), Bewohneranzahl (8), Wohnungsgröße (8), Veränderbarkeit (8), Orientierung (16), Geschossigkeit (5), Zonierung (7), Wohnfunktionen (13), Erschließung (9), Außenraum (7) und Konstruktion (5) ist mit Überschneidungen verbunden, aber grundsätzlich nachvollziehbar. Die Auswahl der Projekte wiederholt die Grundrisspriorität und zeigt mit je einem winzigen Bild (1,7 x 2,5 cm) und miniaturisierten Schwarzplanvignetten (ebenfalls 1,7 x 2,5 cm) leider sehr wenig von der jeweiligen Besonderheit. Fazit: Für die Relevanz des Grundrisses bietet das Buch eine Fülle anschauenswerten Materials, der Komplexität des Wohnungsbaus und der Entwurfsansätze – neu und im Bestand – wird es kaum gerecht. ub

Arbeiten

So wie Sprache, Zeichen und Bilder die Grundlage für jegliche Kommunikation bilden, so ist es auch im Entwurfsprozess elementar zu wissen, wie Arbeiten funktioniert – heute genauso wie in der Vergangenheit. Deshalb heißt der erste Teil des Bandes "Arbeiten" auch "Arbeit verstehen". In einer ausführlichen Zeitleiste – grafisch übersichtlich dargestellt – werden die Geschichte und Entwicklung von Arbeit und den damit zusammenhängenden Veränderungen von Arbeitsplätzen, beginnend 8.000 v. Chr. bis heute und in die nächste Zukunft, gezeigt. Genauso wichtig ist es, das gesamte Spektrum verschiedener Arbeitssysteme, angefangen bei der Ich-AG, bei Minijobs, Teilzeitarbeit, Jobsharing, Zeitarbeit, Telearbeit, bis hin zu Projektjobs und vielen Formen mehr, zu kennen, um adäquat im Entwurf auf entsprechende Vorstellungen und Notwendigkeiten reagieren zu können. Dabei liefert das Buch natürlich keine vorgefertigten Standardgrundrisse für Standard-Arbeitsplätze. Vielmehr ist nach Meinung der Autoren die Zukunft der Arbeitsplätze insoweit unsicher, als ihre kurzfristige und in immer kürzeren Intervallen notwendige Anpassung als Aufgabe für den Architekten steht. So viele verschiedene Arbeitsmodelle es auch gibt, so viele Möglichkeiten zur Veränderung der Arbeitsbereiche der Zukunft stehen zur Verfügung. Da ist die Rede von kybernetischen Bürowelten, von Erhalt und Umbau bestehender Arbeitsflächen, von Mobilitätseinbindung oder "Flexicurity" (Flexibilität und Sicherheit).

Grundbausteine im Ablauf eines Büro-Arbeitstages und damit relevant für den Arbeitsplatz, der entworfen werden soll.

Im zweiten Teil "Arbeit und…" geht es um 48 Typbilder und -konzepte, die als Bausteine der "Verortung" dienen. Jeder Ort und jede Lage im städtebaulichen Sinn erfordert eine angepasste Typologie, weshalb nach einer Standortanalyse die große Palette der Typologien – Punkthäuser, lineare Bauten, Blockbebauung oder freie Formen – das Handwerkszeug ist, das zum ersten intuitiven Entwerfen gehört.
Der Band schließt mit ausgewählten Beispielen, danach unterteilt, für wie viele Arbeitsplätze das Gebäude konzipiert wurde. Vorgestellt werden die Projekte auf jeweils einer Doppelseite mit einem kurzen Erläuterungstext, einem Foto in Schwarzweiß und schematisierten Grundrissen in wechselnden Maßstäben, mal 1:333, mal 1:500 oder 1:1.500.
Die genannten Beispiele zeigen, dass es sich bei diesem Band um ein Arbeitsbuch für das Entwerfen von Büroarbeitsflächen und -gebäuden handelt; Handwerk, Industrie oder Gewerbe wurde gänzlich ausgeklammert. Sicher wäre dafür ein eigener Band notwendig, zumal sich auch da die Anforderungen rasant wandeln. pb

Die einfachen 3D-Zeichnungen zeigen mehr als so manch aufwändiges Rendering.
Lernen

Im vierten und letzten Teil dieses umfangreichen Werkes befassen sich Arno Lederer und Barbara Pampe auf 434 Seiten mit dem Thema Lernen. Doch besprochen werden nicht, wie man dies annehmen könnte, Kindergärten, Schulen und Hochschulen – alles Orte des Lernens – sondern lediglich die Schulen, in denen sich Kinder bis zu ihrem 19. Lebensjahr aufhalten. Soweit die Einschränkung. Doch was die Autoren zu diesem ausgewählten Bereich an Informationen und interessanten Projekten liefern, wiegt dies wieder auf. Zu Beginn führen drei fundierte Aufsätze den Leser in die Thematik ein und konfrontieren ihn mit zahlreichen Problemen, auf die er beim Entwerfen eines Schulgebäudes stoßen wird. Interessant sind vor allem die Zeilen "Der dritte Pädagoge ist der Raum" von Otto Seydel, der sich als Pädagoge und nicht als Architekt von einem anderen Blickwinkel aus mit Schulen beschäftigt. Daran anschließend werden im zweiten Teil der Publikation die verschiedenen Bereiche einer Schule, wie Eingang, Aula und Lehrerbereich, ausführlich behandelt. Die kurzen Texte spielen dabei eine untergeordnete Rolle, das Augenmerk liegt auf den 2D- und 3D-Plänen verschiedener, bereits realisierter Gebäude. Auch hier haben – analog zu den anderen Teilen – Verlag, Herausgeber und Autoren auf komplette Grundrisse verzichtet, perfekt wirkende Renderings blieben glücklicherweise außen vor. Das Gezeigte soll zum Nachdenken anregen und keine fertigen Lösungen präsentieren.
Sehr umfangreich ist der nachfolgende Projektteil, in dem 69 Schulen auf je einer Doppelseite in chronologischer Reihenfolge vorgestellt werden. Auch hier muss sich der Leser mit nur einem kleinen Foto begnügen, die notwendigen Informationen liefern die Projektdaten, wie Name, Adresse, Architekt und Jahr der Fertigstellung, ein kleiner Lageplan und eigens für diese Publikation angefertigte Pläne (teilweise in etwas gewöhnungsbedürftigen Maßstäben, wie 1:800). Die verwendeten Farben und Nummern erläutert eine übersichtliche Legende, die ganz am Ende des Buches angeordnet ist und so ausgeklappt werden kann, dass sie auch während der Lektüre einsehbar bleibt. Und obwohl Register viel Arbeit erfordern, wurde auch hier nicht gespart. So sind die Bauten nach den verschiedenen Architekten, ihren Standorten und Heimatländern aufgelistet. Das Tüpfelchen auf dem i eines empfehlenswerten Buches. sh

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