Design – diese inflationäre Worthülse!

7. Januar 2015
Heinz Rasch in jungen Jahren, rechterhand: Kragstuhl (Bilder: Tecta Archiv Lauenförde)

Es sind die goldenen 1920er-Jahre: Kisch und Remarque stehen in den Bücherregalen, 1929 erhält Thomas Mann den Literaturnobelpreis, Josephine Bakers wilder Tanzstil trifft das neue Frauenbild. Menschenschlangen stehen vor den Filmspielhäusern, um Dr. Caligari als Meilenstein des Stummfilms zu betrachten. Die Stimmung ist vibrierend. Vier große Gestalter arbeiten an einem neuen Objekt. Mies van der Rohe, Marcel Breuer, Mart Stam und Heinz Rasch bewegt der Gedanke des Schwebens und sie verbinden ihn mit einem Gegensatz – dem des starren Sitzens. Plötzlich entsteht ein oszillierendes Möbel, dessen Name nicht sperriger sein könnte: der Kragstuhl. Ein Modell, das mit zwei statt vier Beinen auskommt und später unter dem fälschlichen Begriff «Freischwinger» in die Designgeschichte eingehen soll.

Heinz und Bodo Rasch: Projekt für hängende Wohneinheiten: axonometrische Ansicht im Schnitt, 1927

Wiederbelebung der Klassiker
Heinz Rasch, damaliger Pressesprecher der Weißenhofsiedlung von Stuttgart, die unter Leitung von Mies van der Rohe gegründet wurde, formuliert: «Die Zukunft war plötzlich sichtbar geworden!». Sichtbar in einem Stuhl, der die Menschen bewegt, auch noch ein knappes Jahrhundert später. Darunter Axel Bruchhäuser. Der Ingenieur hatte in Lauenförde 1972 das Unternehmen Tecta übernommen und reeditiert die großen Klassiker des Bauhaus. Liebevoll entwickelt er sie in seiner Manufaktur mit ihren Entwerfern weiter – ob mit Marcel Breuer, Jean Prouvé, Sergius Ruegenberg oder Heinz Rasch.

«Mich interessierte, aus welchem Gedanken heraus der Kragstuhl entstanden ist», erzählt der Unternehmer heute. «Für mich war es instinktiv die Suche nach der Urform des Stahlrohr-Stuhles.». An die einhundert Mal stieg Axel Bruchhäuser, von Lauenförde kommend, in den Wagen um am Wochenende, wenn seine Produktion stillstand, den inzwischen 76jährigen Heinz Rasch zu besuchen. Rasch war immer noch der wache Geist von einst, geprägt von Intellekt und Geistesblitzen. Er und sein Bruder Bodo hatten die Architektur zwischen 1926 und 1930 in Atem gehalten. Sie entwickelten Hängehäuser, pneumatische Gebäude, dachten Container-Architekturen durch. Rasch sammelte ebenfalls umfangreiche Studien zur Weiterentwicklung des Kragstuhls und trug sie Bruchhäuser vor.

Schwerelosigkeit beim Sitzen
Rasch genoss es, mit dem Unternehmer über Material und Konstruktion zu debattieren, denn Bruchhäuser, der Ingenieur, war ein adäquates Gegenüber. «Die Idee, sich von der Schwerkraft der Erde zu lösen, lag in der Luft und war in den Köpfen der Visionäre Gropius und El Lissitzky verankert», berichtet Axel Bruchhäuser. Marcel Breuer stellte schon 1926 fest: «Am Ende sitzt man auf einer elastischen Luftsäule – also vollkommen schwerelos». Den Namen «Kragstuhl» erklärte Heinz Rasch dem Ingenieur Bruchhäuser mit den architektonischen Konstruktionen von Fachwerkhäusern, die im Obergeschoss überkragen.
Rund zwanzig Jahre lang versuchte Bruchhäuser mit Heinz Rasch, die Ideen und Visionen um den Kragstuhl weiter zu entwickeln. Zwanzig Jahre, in denen Rasch den Unternehmer davon überzeugte, dass es reiche, «wenn man nur einen Stuhl davon produziere, um einen Menschen glücklich zu machen».

Ständige Weiterentwicklung
«Gemeinsam arbeiteten wir daran weiter, was der russische Avantgardist El Lissitzky durch sein Denken über das Schweben ausgelöst hat. Egal, von wem der Anstoß für das Möbel letztendlich kam», unterstreicht Axel Bruchhäuser, «es war das Bestreben, nach den ästhetischen Wurzeln der Dinge zu suchen.». Heute ist der Kragstuhl durch die nachhaltigen Impulse von Heinz Rasch geprägt. Als der Konstrukteur Jean Prouvé dem fragilen Stuhlgestell abgepresste Rundrohre beisteuerte, die unter der Bezeichnung «Tube aplati» (franz. aplatir = abplatten) die Stabilität der Kragstuhlrohre erhöhten, bezeichnete Rasch den Einfall 1987 als «Ei des Kolumbus». Noch ahnte niemand, wie sich diese Idee tatsächlich durchsetzen würde. Aber Rasch, der Visionär, sollte Recht behalten. In den folgenden 30 Jahren reifte das patentierte System als prägendes Merkmal für die Bauhaus-Kragstühle aus.

«Heinz Rasch hatte visionäre Kraft und konnte maßgebliche Entwicklungen für die Zukunft erkennen», erzählt Axel Bruchhäuser. «Er lebte im Geist des Materials, der Struktur und Konstruktion.» Dass dem Gestalter das Wort «Design» verleidet war, «diese inflationäre Worthülse», versteht sich von selbst. Wie stark Heinz Rasch mit seinen Überlegungen die internationale Kunst, Konstruktion und Architektur der 1920er Jahre beeinflusst hat, präsentiert die Ausstellung im MARTa Herford ab dem 25. Oktober in einem groß angelegten Spannungsbogen, der von der Moderne bis in die Gegenwart führt. Inken Herzig
 
Die Ausstellung «Der entfesselte Blick – die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur» läuft bis zum 1. Februar 2015, MARTa Herford. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit 240 Seiten, unter anderem mit Beiträgen von Axel Bruchhäuser und seinen Leihgaben (rund 30) aus dem von ihm gegründeten Kragstuhlmuseum und dem Tecta-Archiv Lauenförde. 

Inken Herzig, M.A., Journalistin mit Schwerpunkt Architektur und Design, studierte Kunstgeschichte und Neuere Deutsche Literatur. Nach mehrjährige Berufserfahrung in Rundfunk, Fernsehen und bei Fachmagazinen betreut sie heute u.a. als Chefredakteurin das  KAP -Magazin.

Andere Artikel in dieser Kategorie