Das Recht auf Gewohnheit

Gert Kähler
15. Dezember 2010
"Feiern Sie mit!" – heiterer Widerstand in Hamburg. (Bild: Christian Holl) 
Dem Wähler reicht's!

"Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut" dichtete in den 1920er Jahren Jakob van Hoddis, und beschrieb damit eine Umbruchzeit. Dergleichen haben wir in unserer Generation schon einmal erlebt; unsere Eltern schwärmen noch immer mit Tränen in den Augen von Vietnam-Protest und Nato-Doppelbeschluss: Protest allenthalben gegen die Obrigkeit. Heute ist die "Obrigkeit" eine von uns gewählte, der aber offenbar nicht mehr der Alleinvertretungsanspruch auf Legitimität gewährt wird. Das hat überwiegend emotionale Gründe, die aber nicht weniger berechtigt und wirksam als die rationalen sind – vielleicht sogar wirksamer, denn die Wirkung der Proteste um S21 werden uns noch lange beschäftigen: Wir sind engagiert, manchmal wütend, aber immer das Volk!
Das mag unvernünftig sein, weil die vorhergehenden Entscheidungen allem Anschein nach demokratisch gefallen sind – wir haben unseren politischen Willen auf Zeit an die Volksvertreter verliehen. Aber diese Art der Demokratie ist selbst bei denjenigen, die sie per Wahl verliehen haben, Teil eines "Politik-Apparats". Das eigentlich Neue ist, dass sich das Volk inzwischen bei allen demokratischen Verfahren nicht mehr vertreten fühlt. Das macht es wütend.

Schöne, neue Sonnenblumenwelt – der Widerstand gegen ungewünschte Sanierungen wächst. (Bild: Christian Holl) 
Zu schnell, zu rasant?

Der eigentliche Ausgangspunkt aber ist das unbewusste Gefühl, dass sich unsere Umgebung, unser öffentliches Wohnzimmer, unsere Stadt schneller verändert, als es für uns gut ist. Objektiv ist es geradezu lächerlich (bei aller Vorsicht dem Begriff des Objektiven gegenüber!), das neue Haus eines Investors per Bürgerbegehren abzulehnen. Es schafft die berühmten Arbeitsplätze, es sieht sogar besser aus als der derzeitige Zustand. Aber es wird als Teil einer Veränderung gesehen, die unsere gesamte Umgebung betrifft – in Hamburg und den immer noch wachsenden Städten besonders. In Hamburg richtet sich der Widerstand gegen alles, was zur Gentrifizierung gehört: neue Häuser, neue Bewohner, neue Café-Macchiato-Sorten. Der Kiez (und damit ist nicht nur St. Pauli gemeint) soll so bleiben, wie er ist: schmuddelig, kuschelig, gewohnt, wie unser und Hempels Sofa zuhause.
Die Bürger sehen sich mit dem Rücken an der Wand: Alles ist globalisiert, alles verändert sich, demnächst werden wir alle 3-D gucken! Sogar die Katastrophen folgen so schnell aufeinander, dass man kaum nachkommt mit der Spende – Öl im Golf von Mexiko, Brände in Russland, Überschwemmung in Pakistan. Was sollen wir tun? Was können wir tun, außer zehn Euro für die Spendengala zu schicken? Da ist es nur zu verständlich, wenn man versucht, zuhause, in seiner Stadt alles beim Alten zu lassen: Wir sind keine kapitalisierbare Ressource, heißt das, wir sind Subjekte! Das mag irrational sein, in vereinzelten Aktionen vielleicht sogar kriminell. Die Stuttgarter Bürger, die sich an die Bäume im Schlosspark klammern, kosten den Staat Geld und die Polizisten Überstunden: nicht einmal 300 Bäume gegen die Arbeitsbelastung von Polizisten und deren Familien? Und wer zahlt die Überstunden? Wir alle – auch die Bäumebesetzer, sofern sie Steuerzahler sind.

Investoren bläst auch in Hamburg ein scharfer Wind entgegen. (Bild: Christian Holl) 
Wasch mich, aber mach mich nicht nass

Natürlich sind wir selbst Schuld, wenn wir kreuz und quer durch die Welt jagen, im Urlaub oder im Job. Wir können es, also tun wir es. Das heißt aber auch: Wir brauchen, mit einem schönen, altmodischen Begriff gesagt: die Heimat, den Blochschen "Ort, worin noch niemand war". Diesen Ort gibt es, zumindest verließ man sich bislang darauf, dass es ihn gibt. Und jetzt ahnen wir, dass dessen Gewissheit nicht mehr unumstößlich ist. Denn es kommt immer wieder jemand, der an der Gewissheit rüttelt, im Zweifelsfall unter dem Banner des Fortschritts.
Die Idee des Fortschritts hatte ja ihre Vorzüge, wir haben es nach dem Krieg erlebt: Weg mit den alten Häusern, neue Bauten, neue Straßen, neue Autos brauchte das Land. Und welch' großartige Ergebnisse hat dieser Fortschritt gebracht: Jede Familie hatte jetzt eine Wohnung, von der das untere Drittel der Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit bisher nur träumen konnte! Jeder bekam ein materielles Existenzminimum, das in der Verfassung garantiert wird – das gab es noch nie! Und sehr viele Menschen können drei, vier Wochen in Urlaub fahren, in ein fernes Land – auch das gab es noch nie!
Zugleich hat dieser Fortschritt einen Phantomschmerz erzeugt: Wir sehnen uns nach den alten Häusern und Quartieren zurück (die eine Klassengesellschaft abbildeten, und in denen man mit Untermietern oder Bettgehern wohnen musste, wenn man zum Proletariat gehörte). Wir sehnen uns in Dinkelsbühl oder Lübeck nach einem Mittelalter, in dem alles so schön übersichtlich war (und in dem strenge Vorschriften uns sagten, wie wir uns kleiden mussten und wie wir zu bauen hatten). Kurz: Wir sehnen uns in Zeiten zurück, in denen wir ernsthaft nicht leben möchten.

"It's nice, it's new – but it's not me" – predigte schon der ehemalige Oberbaudirektor von Hamburg, Egbert Kossak, seinen Studenten. (Bild: Christian Holl) 
Gewohnheitsrechte

Die vermeintlichen Gewissheiten der Vergangenheit wirken plausibel. Das Gebaute aus Straßen, Plätzen und Häusern bildet unsere Umgebung. In den Konflikten geht es nur vordergründig um neue Bauten oder Gentrifizierung. Wir wollen bloß nicht einfach ungefragt saniert werden. Wir wollen uns nicht sagen lassen, was besser für uns ist. Wir möchten uns das Recht vorbehalten, nicht fortzuschreiten. Vielleicht das Schlechtere zu wählen. Oder gar nichts. Wir wollen, dass unsere Umgebung so bleibt, wie sie ist. Denn Veränderung haben wir schon genug.
Ob diese Umgebung nach Maßgabe der Architekturkritiker oder Politiker schön ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle – sie ist unsere Umgebung, nicht eure! Heimat schafft Sicherheit. Heimatlosigkeit schafft Unsicherheit. So einfach ist das.
Genau an diesem Punkt kommen die verschiedenen Ereignisse zusammen: die Schulreform, die gekippt wurde, obwohl sie den Interessen einer Mehrheit diente; die kleine Bauinvestition, für die mit dem Bebauungsplan ein ganzes demokratisches System in Bewegung gesetzt worden war; die illegale Hausbesetzung, die zu Mieten führen muss, die die armen Künstler wieder nicht bezahlen können, sobald die Häuser saniert sind; oder das Bahnprojekt, das der eingekesselten Stadt Stuttgart endlich Gestaltungs- und Erweiterungsmöglichkeiten bringen würde. Die Gegenbewegungen sind Ausdruck der Überzeugung: Wir haben kein Vertrauen mehr in eine Politik, die uns sagen will, wie wir zu leben haben. Wir sehen selbst genau hin. Die Proteste sind, auf einer tiefer liegenden Ebene, Ausdruck des Gefühls, dass unsere Umgebung uns gehört – Finger weg! Lasst uns mal Luftholen bei allen Veränderungen (die wir im Technischen begeistert mitmachen – es ist ja nicht so, dass das Verhalten der Bürger widerspruchsfrei wäre!).
Wir haben ein Recht darauf, nicht fortzuschreiten. Wir haben ein Recht auf das Gewohnte. Gert Kähler

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