Das fragliche Schicksal des Details

19. August 2014
Wie sieht ein Kapitell im Jahr 1975 aus, nachdem die Moderne jede Anleihe aus der historischen Architektur verboten hatte? Carlo Scarpa, Wohnhaus Vicenza, Ecklösung. (Foto: Marco Pogacnik)

«My entire life I have dedicated to a war of architect’s feticism with details, because I think that is one safe area in which they can be a genious and can be irrelevant at the same time» (Rem Koolhaas, Zürich, 25th April 2014). Ein Genie und gleichzeitig ein Versager zu sein, dieser Ambivalenz ist der Architekt heutzutage ausgesetzt, wenn er sich (nach den Worten von Rem Koolhaas) mit «Detailing» beschäftigt. Die Architektur-Biennale 2014 bestätigt diese Aussage, gleichzeitig wirft sie aber auch die Frage auf, welche Folgen das für die Architektur beinhaltet.

So beschäftigt sich ein Forschungsteam der Università IUAV Venezia seit einem Jahr mit der Frage der Bedeutung des Details für die Arbeit des Architekten, was sich gleichzeitig auf sein gebautes Werk wie seinen Beruf bezieht. Einige Architektur-Zeitschriften haben ihren Fokus bereits seit längerer Zeit dieser Frage gewidmet: in Deutschland etwa «Detail» und in Italien «The Plan». Eine Reihe grundlegender, auf Material, Technik, Bautypus und Bauelement gerichtete Publikationen sind mittlerweile in diesem Bereich erschienen. Dazu soll noch die Arbeit des amerikanischen Forschers Edward Ford erwähnt werden, der seit den 1990er-Jahren mehrere Publikationen dem Detail in der modernen Architektur gewidmet hat. Eine Art theoretisch-kritische Einleitung zu unserem Projekt aber ist vor allem ein Werk: das Buch «Le Détail» (1992) des Kunsthistorikers Daniel Arasse, das uns die Unzulänglichkeiten der Architektur- im Verhältnis zur Kunsttheorie wundervoll spüren lässt.

Adolf Loos, Goldman&Salatsch, Wien, Detail Eckpfeiler: Warum hat Loos seine Architektur mit Marmor bekleidet und dann oberhalb der Säulen mit Gewalt einen Eisenträger in den Eckpfeiler gesteckt? (Foto: Marco Pogacnik)

Die Frage nach dem Detail beinhaltet mehrere Themen: das Verhältnis zwischen dem einzelnen Teil und dem Ganzen, die Erkennbarkeit und das Zusammenfügen der verschiedenen Bauelemente, das Hervorheben der Materialeigenschaften sowie die Gliederung des Bauvolumens. Im Detail treffen sich beide Ebenen: die technische Ebene des Bauens und die ästhetische Ebene der Wahrnehmung. Die  Wahrnehmung eines Baus verdankt dem Detail Orientierung, Maßstab und Hierarchie. Das Detail fordert eine Nahsicht, keine Betrachtung aus der Ferne, was auch bedeutet, dass die konkrete, fassbare Erfahrung eines Baues «in situ» gefordert wird. Was wir am Bildschirm betrachten, ist nur ein «fake», ein ungefähres Abbild des reellen Baus.

Architekten über das Detail
Anfang Juli dieses Jahres wurden die ersten Ergebnisse unserer Forschungsarbeit in einer Ausstellung auf der Architektur-Biennale präsentiert (www.detailsinsection.org). Die Ausstellung bestand aus dem Beitrag einer Reihe von Architekturbüros, die eingeladen wurden eine Tafel zu produzieren, auf der vier aus ihrem Werk ausgewählte Details mit einem Statement zum Thema gezeigt werden. Unsere Auswahl der Architekturbüros war sehr breitgefächert: Von Japan bis Kanada haben wir auch von namhaften Architekten eine schnelle Antwort erhalten. Wir scheinen mit unserem Vorhaben also einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben.

Petra und Paul Kahlfeldt: The column reveals the essence of architecture. (Quelle: Petra und Paul Kahlfeldt Architekten)

Das Duo Riegler-Riewe plädiert für eine «signatureless architecture»: Grammatik und Detail sollen als «background» wirken. Peter Märkli arbeitet mit einer eher historisch geprägten Grammatik und fragt sich, auf welche Weise das Auge auf den Bau gelenkt werden kann, um darin das alte Thema von Kapitell und Basis wiedererkennen zu können. Paul Kahlfeldt dagegen fräst das alte Kapitell mit seinen Voluten direkt aus einem Block Naturstein heraus, was als Verzweiflung an der Auflösung unserer Disziplin eher als reaktionäre Haltung zu deuten ist.

Für den Asahi Kindergarten hat das Büro Tezuka die im Jahr 2011 wegen des Tsunami vor Ort «gestorbenen» Bäume als Bauholz verwendet. Die Bäume waren 400 Jahre alt und wurden 1611 nach einem ebenfalls zerstörerischen Tsunami gepflanzt. Kaum ein Stück Metall wurde für den Boden und das Tragwerk genutzt. Alle Verbindungen bestehen aus Holz, aus demselben heiligen Holz. Nach Tezuka soll Architektur Menschen dienen und der Zeit trotzen. Der gleichen Meinung ist auch Kengo Kuma: Architektur soll ehrlich sein, das Detail soll unser Augenmerk auf die Konstruktion lenken, denn sie ist die gesellschaftliche, kollektive Basis der Architektur und sorgt für deren soziale Anerkennung. Diese Auffassungen vom Bauen schlagen eine Brücke zu Architekten und Ingenieuren wie Jürg Conzett, der sagt, ein Bauwerk sei von dessen erforderlicher Pflege nicht zu trennen. Das Bauen als solches soll als eine Art Pflegekunst unserer Landschaft verstanden werden. Im Detail erreicht diese Pflegekunst eine fast rituelle Bedeutung.

Annette Gigon / Mike Guyer: Space in Matter. (Quelle: Annette Gigon / Mike Guyer Architekten)

Nach Barkow-Leibinger ist das Detail eine «tectonic poché», also eine Art genetische Zusammenfassung eines Bauwerkes. In ihm manifestiert sich die Kunstfertigkeit des Architekten (ARTEC Architekten) und seine erfinderische Gabe, Räume zu gestalten (Gigon/Guyer). Mit der Konstruktion soll der Architekt mit Bescheidenheit umgehen, da die konstruktive und formale Grammatik (nach Burkhalter-Sumi) klar und sinnfällig sein soll, wenn Architektur sozial anerkannt werden will. «Form and Profession» lautete der Titel ihres Beitrags, in dem vor der heutigen Gefahr gewarnt wird, der Beruf des Architekten könne verschwinden. In die gleiche Kerbe schlägt auch auch Cino Zucchi, der sich ausgehend von der Frage nach dem Detail mit den jüngsten Veränderungen im Berufsbild des Architekten auseinandersetzt.

Für Hermann Czech ist jedes Detail gleichzeitig auch das Ganze, was die Befürchtungen von Andreas Hild, die Moderne hätte das Ganze dem Detail vorgezogen, als bereits historisch überholt erklärt. Dass jedes Detail auch ein Ganzes ist, stimmt mit dem allgemeinen Gedanken überein, Architektur dulde heute keine Hierarchie mehr (Pascal Flammer). Architektur ist ein kollektives Werk, das selbst die Autorenschaft des Werkes in Frage stellt.

Hermann Czech: The Notion of „Detail“. (Quelle: Hermann Czech)

In allen diesen Statements offenbart sich eine Architektur, die stolz an dem Detail festhält, als ein wirksames Instrument, um die Komposition des Baues differenzierter gestalten zu können. Ohne Details sähen alle Bauten wie einfache Blasen aus.

Vor einem Missverständnis soll nach alledem noch gewarnt werden: Die Aufgabe der Architektur ist es nicht, gute Details hervorzubringen, genauso wenig wie es die eines Dichters ist, grammatikalische Regeln vorzutragen. Architektur ist eine raumgestaltende Kunst (Schmarsow, 1894): Sie soll Räume schaffen, in denen die Menschen gut arbeiten, wohnen und sich begegnen können. Das Detail trägt dazu bei, dass wir uns in diesen Räumen auch wohl fühlen, indem wir uns mit ihnen identifizieren können. Wer die absolute Vorherrschaft des Räumlichen über das Detail postuliert, fördert die Verarmung unserer architektonischen Erfahrung, die sich aus dem Unsichtbaren (dem Raum) und dem Sichtbaren (der Materie in ihrer besonderen Zusammenfügung) zusammensetzt.

Das Detail und die Architektur-Biennale 2014
Ein großes Verdienst der Architektur-Biennale 2014 ist, das Augenmerk wieder auf die Architektur gelenkt zu haben. Schluss mit dem Narzissmus des Architekten, Schluss mit dem Archistar-System, Schluss mit der Brand-Architektur! Man muss sich dennoch fragen: Ist es etwa eine große Entdeckung, dass Architektur aus Decke, Wand, Rampe und Toilette besteht und dass diese Elemente eine lange Geschichte haben? Gut ausgebildete Architekten wissen, dass die Moderne seit Piranesi und Ledoux gerade darin besteht, dass das Verhältnis zwischen Boden, Wand und Decke ins Schwanken geraten ist (siehe etwa die Kugel von Ledoux oder die Gefängnisse von Piranesi). Wir sind gezwungen, diese Elemente bei jedem Werk neu zu denken und neu zu definieren.


Blob: Koolhaas, Capitanio, Eisenman. (Dauer: 3:47 min.)

Die Architektur-Biennale 2014 konfrontiert uns mit einem Haufen Material, gibt uns ansonsten aber keinen konkreten Hinweis darauf, was wir mit diesem Haufen anstellen sollen oder können. Aus einer Sammlung von Türgriffen, Fenstern, Türen, Decken und Balkonen entsteht noch lange keine Architektur, obwohl all das mit Architektur zu tun hat. Am besten hat diese Thematik der gute, alte Peter Eisenman auf den Punkt gebracht: «First of all, any language is grammar. The thing that changes from Italian to English is not the words being different, but grammar. So, if architecture is to be considered a language, ‹elements› don’t matter. I mean, whatever the words are, they’re all the same. So for me what’s missing [in the Biennale], purposely missing, is the grammar.» (Interview, 9th June 2014)

Der Wert des Details
Diese Frage hat Mies van der Rohe einmal so formuliert: «Nicht auf das ‹Was›, sondern einzig und allein auf das ‹Wie› kommt es an». Das «Wie» hinterfragt, wie kompositorisch und konstruktiv ein gewisser Teil (oder «De-tail») eines Baus gelöst werden soll, sprich: wie eine Stütze einen Balken trifft, wie ein Rahmen unterteilt wird und wie die verschiedenen Elemente ausgefacht werden, wie eine Hülle an der Struktur dahinter aufgehängt wird, was letztendlich mit dessen Erscheinungsbild zu tun hat, auch wenn die Tragkonstruktion selbst unsichtbar bleibt. Das «Wie» bedeutet, dass unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Wand als solche, sondern auf ihr Wesen, ihre Materialität und ihren Aufbau gerichtet werden soll. Ist eine Wand eine Ziegelwand, dann ist die Farbe der Steine und die Ausbildung der Fuge entscheidend. Handelt es sich um eine Holzwand, dann betrachten wir die Faser der Hölzer und ob die Wand mit Platten oder Bohlen verkleidet ist. Unsere Wahrnehmung wird von der Konstruktion und dem Detail stark geprägt, und so ist es immer die Frage, mit welchen Mitteln eine Idee umgesetzt wird, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Je nachdem ob sich am Fuß einer Wand eine Schattenfuge befindet, verändert sich sowohl unsere Wahrnehmung von der Wand wie auch ihr Wesen in Verhältnis zu Boden und Decke. Die Beachtung solcher Aspekte hat dazu geführt, einige Lösungen zu systematisieren, die sich gut bewährt haben und deswegen immer wiederkehren: Eckausbildung, Gesims, Fries, Geschossband. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Detail und Ornament fast schon. In «Vers une architecture» hat Le Corbusier diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet und es «Pure création de l’esprit» betitelt: «La modénature est la pierre de touche de l’architect […]» (in etwa: Die Komposition ist der Prüfstein des Architekten).

Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa: The Detail and the Legislation. (Quelle: SANAA – Sejima and Nishizawa and Associates)

Ben van Berkel und Caroline Bos haben einmal geschrieben, der Begriff des Details als Teil eines Ganzen und als gliederndes Element sei veraltet. «Von der Gewohnheit, das Detail als Verzierung zu begreifen, hat man sich schon lange gelöst, der Verzicht auf die Vorstellung einer gliedernden Funktion aber hat Verunsicherungen zur Folge». Mit der diesjährigen Architektur-Biennale wird ihre schon 1996 geäußerte Schlussfolgerung bestätigt. Die Verbannung der Komposition aus dem architektonischen Diskurs – darüber hat Jacques Lucan kürzlich ein grundlegendes Buch geschrieben – hat zur Folge, dass jeder Versuch, über das Detail hinsichtlich seiner kompositorisch-grammatikalischen wie auch konstruktiv-technischen Dimension zu sprechen, ein verzweifelter ist. «In Wahrheit sind auch die hier dargelegten Punkte zum Detail in ihrer bescheidenen Beiläufigkeit nicht mehr als ein behelfsmäßiges Unterfangen, an einer untergehenden Disziplin festzuhalten.» (Berkel-Bos, 1996). Für die Menschen ist das Bauen eine Notwendigkeit. Ob sie zu diesem Zweck die Dienste eines Architekten auch in Zukunft brauchen werden, scheint die jetzige Biennale in Frage zu stellen.

Marco Pogacnik ist Professor an der Università IUAV di Venezia am Lehrstuhl für Architekturgeschichte und dort Leiter der Forschungsabteilung «Arte del Costruire». Daneben war er mehrfach in Deutschland und Oesterreich als Gastprofessor tätig. In seinen Studien und zahlreichen Publikationen hat er sich mit der Geschichte der Moderne vom ausgehenden 17. bis zum 20. Jahrhundert beschäftigt. www.iuav.it/artecostruire

Das Team des Forschungsprojekts «DETAILS. Architecture seen in section» ist:
Andrea Ambroso (IUAV Venezia), Marco Capitanio (Zurich), Alberto Franchini (IUAV Venezia), Orsina Simona Pierini (DAStU, Politecnico Milano), Luka Skansi (IUAV Venezia), Mauro Sullam (DAStU, Politecnico Milano) und Claudia Tessarolo (IUAV Venezia)
Mitwirkende Studenten: Elisa Tedeschi, Elena Rampin, Rodrigo Qyshka, Claudio Vianello, Veronica Zanusso, Fabio Pizzo, Francesca Martinelli, Sara Bortolato, Cristian Visintin, Elena Rampin, Francesca Camerin, Tobia Badoer

Informationen und Impressionen zur Forschungsarbeit «DETAILS. Architecture seen in section»: www.detailsinsection.org

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