Darf's ein bisschen mehr sein?

Robert Kaltenbrunner
20. April 2011
Solarpanels als Fassadenverkleidung an der Audi Güterverkehrszentrale in Ingolstadt (Architekten: pbb, Ingolstadt, Bild: Wilfried Dechau, Stuttgart) 

Politik und Architektur sind stets auf der Suche nach (neuen) Inhalten – und immer in der Gefahr, sich in ihnen zu verlieren. Gleichwohl pflegen sie die Wahrheit mit großer Autorität, sie im Brustton der Überzeugung zu verkünden. Und doch bleibt der Bezugsrahmen von Architektur immer ein gesellschaftlicher. Und der zeigt sich nirgends deutlicher als beim Stichwort "Sustainability" (Nachhaltigkeit).

Architektur ist nicht Selbstzweck

In der Diskussion, die hierzulande geführt wird, erscheint Nachhaltigkeit – besonders wenn sie auf Innovation und Hochtechnologie bezogen wird – wie eine Dame ohne Unterleib: Abgeschnitten von den kulturellen Fermenten und den sozialen Katalysatoren, ohne die ihr gesellschaftlicher Gebrauch nicht zu haben ist. Gewiss wird bei den irgendwie hervorgehobenen Bauvorhaben – sei es nun deklamatorisch beim Commerzbank-Hochhaus in Frankfurt oder realiter beim Umweltbundesamt in Dessau – viel Wert auf "ecological correctness" gelegt. Dies mag schon aus Gründen eines zukunftsgewandten Marketings geboten sein. Dennoch ist es bislang eher die Optimierung von Einzelaspekten, weniger eine Gesamtheit umweltorientierter Planungsprinzipien, es ist stärker die Bezugnahme auf das einzelne Gebäude als auf den Siedlungszusammenhang, welche die Realität bestimmen. Green Glamour als private Lebensstiloption für Besserverdienende, das ökologisch hochgerüstete Eigenheim auf der grünen Wiese: Sie mögen, für sich genommen, begrüßenswert sein. Sie bieten aber keine probate Antwort auf die eigentliche Herausforderung.
Worin liegen nun, angesichts der ökologischen, energetischen und klimatischen Herausforderungen, die Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Architektur? Mit bloßen Applikationen – wie Dämmung und Kollektoren – dürfte es jedenfalls kaum getan sein. Ein zentrales Problem liegt ja schon in der unstillbaren Neigung, immer wieder von vorn anzufangen. Die planerischen Utopien der Vergangenheit gingen stets von einer tabula rasa aus. Ein Neuanfang gleichsam im freien Feld, bei dem alles – baulich, technisch und gesellschaftlich – "besser" gemacht werden sollte. Der zukunftsträchtige Umgang mit dem, was physisch und mental vorhanden ist, war bei den großen Visionen nie sonderlich beliebt. Was bedeutet jedoch der behutsame und schonende Umgang mit dem bereits Gebauten anderes als eine nachhaltige Strategie, die grundsätzlich Anpassungsfähigkeit und Wiedernutzbarkeit unterstellt, die also "alten Gebäuden" eine zweite Chance gibt? Bei allen Fortschritten, die sich im Neubau schon haben verwirklichen lassen, darf man ja nicht übersehen, dass das größte ökologische Potential im Bereich der Bestandssanierung liegt. Was aber umgekehrt nicht heißt, dass das Bestehende unantastbar ist. Vielmehr geht es um Strategien des Umbaus: um neue Funktionen, um moderne Strukturen an und auf bestehenden Gebäuden.

Pfarrkirche St. Silvester in Emmingen. Bei der 2009 ohnehin anstehenden Dachsanierung wurde gleich Photovoltaik eingebaut: Kaum zu sehen, aber wirkungsvoll. (Bild: Wilfried Dechau, Stuttgart) 
Scheinbare Widersprüche

Doch unabhängig davon: Nachhaltigkeit trifft – zunächst und unmittelbar – noch keine Aussage zum Erscheinungsbild der Architektur. Sie steht a priori der Ästhetik nicht entgegen. Erforderlich ist freilich eine Gratwanderung. Einerseits dürfte eine gewisse Entsagung im Lebensvollzug künftig unvermeidbar sein. Andererseits muss wohl nicht alles grundsätzlich anders gemacht werden. Der Architektur kommt die Aufgabe zu, die Kluft zwischen einer Askese, die der ökologische Purismus diktiert, und unserem Dasein, das Behaglichkeit, Komfort und Bequemlichkeit bis zu einem gewissen Maße zwingend voraussetzt, zu schließen. Zum einen braucht "nachhaltiges Bauen" endlich eine überzeugende sinnliche Präsenz. Wer will von einem hässlichen Gebäude schon wissen, dass es tüchtig ist? Zum anderen müssen bestimmte Traditionsbestände der Architektur revitalisiert werden. Das meint weniger ein überkommenes Stil- und Formenrepertoire als vielmehr haushaltendes Wissen und kongeniale Kreativität im Umgang mit Ort, Klima und Material.
In der vorindustriellen Zeit war Bauen zwangsläufig klimagerecht, wie die regional unterschiedlichen Bauweisen zeigen. Ein Gebäude in Griechenland war anders strukturiert als eines in Skandinavien. In den Bergen baut man anders als am Meer. Geometrie, Farbgebung, Fensterflächen, Dachformen, aber auch Grundrissgestaltung waren an die herrschenden Klimabedingungen so weit wie möglich dergestalt angepasst, dass mit möglichst geringem Energieeinsatz ein möglichst hoher Komfort für die Gebäudenutzer erwuchs.

Rolf Disch vor Plänen der Solarsiedlung Freiburg. Er entspricht gerade nicht dem hier erwähnten Architektenbild. Disch hat den Blick aufs Ganze. (Bild: Wilfried Dechau, Stuttgart) 
Grüne Zukunft?

Nun soll hier weder einem romantisierenden Traditionsverständnis das Wort geredet noch der Eindruck erweckt werden, dass dies unmittelbar übertragbar wäre. Was man freilich zur Kenntnis nehmen sollte, ist, dass der Blick auf ein Ganzes in unserer zur (Über-) Spezialisierung neigenden Welt tendenziell verloren geht. So haben etwa die Fortschritte in der Klimatechnik dazu geführt, dass Gebäude jedweder Architektur in jeder Region dieser Erde unabhängig vom Außenklima gebaut werden konnten. Der Architekt entwarf, anschließend installierte der Haustechniker soviel Technik wie benötigt, um ein angeblich angenehmes Klima im Inneren zu schaffen – koste es, was es wolle. Zugleich bewirkte diese Entwicklung eine fast völlige Trennung der Arbeit von Architekt und Haustechniker. Das aber ist entschieden der falsche Weg. Denn es geht nicht an, Fragen der Nachhaltigkeit an einzelne Spezialisten weiter zu delegieren oder als Aufgabe von einzelnen Fachingenieuren zu begreifen. Oder etwa darauf zu vertrauen, dass die Technologie es schon richten werde.
Das Wesen der Architektur wird heute weniger denn je von ihrer physischen Gestalt bestimmt. Materialien stehen im – von lokalen oder regionalen Bedingungen losgelösten – Überfluss zur Verfügung, ebenso die wählbaren Techniken. Allerdings darf eine Architektur, die wahrhaft nachhaltig sein will, sich nicht in technischen Ansätzen oder innovativen Bauprodukten erschöpfen. Die jüngere Geschichte zeigt ja eben, dass der Erfolg technischer Innovation janusköpfig ist: Sie dient oft als Beschwichtigungstaktik, und sie ist Teil jener Wachstumsideologie, der die ökologische Bewegung eigentlich mit dem Gegenmodell der Kreislaufwirtschaft entkommen wollte. Das sollte man nicht vergessen.
Einen Nachhaltigkeits-Stil freilich gibt es nicht. Und wird es auch in Zukunft nicht geben. Ein solches Bauen verlangt keine einheitliche Ästhetik und keine allgemeinverbindlichen Regeln, es sei denn diejenigen eines vernünftigen, die Umwelt nicht zerstörenden (zumindest nicht beeinträchtigenden) Verhaltens. Doch augenscheinlich ist nichts schwerer, als eben das zu berücksichtigen. Robert Kaltenbrunner

Robert Kaltenbrunner ist im BBR in Berlin tätig und freier Autor bei Tages-und Fachzeitschriften.

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