Theorien und Geschichte

Autor:
ub
Veröffentlicht am
Nov. 17, 2010

Am Sonntag wurden in der Karlsruher Schwarzwaldhalle die Schelling-Architekturpreise verliehen: Medaillen erhielten Tom Heatherwick und die Architekten Knapkiewicz & Fickert, die Hauptpreise gingen an Wan Shu und Lu Wenyu (Architektur) und Jean Louis Cohen (Architekturtheorie). Im eMagazin veröffentlichen wir Auszüge aus dem Vortrag von Jean-Louis Cohen, der u. a. das Verhältnis von Theorie und Geschichte in der Architektur thematisiert.
 
Französisches und Deutsches
Die unerwartete Verleihung dieses Preises gibt mir die Gelegenheit, einige Überlegungen zu heutigen Grundsatzfragen der Geschichte und der Theorie zu liefern – und selbstverständlich auch zu einem "In-mich-Gehen", nach fast vierzig Jahren Arbeit, die ich vor allem als Kritiker und als Historiker verbracht habe. Denn ich würde es nicht wagen, mich als Theoretiker in Reinform zu bezeichnen. Ich bin es höchstens in unreiner Form.
Der Bezug zu meinen jüdischen Vorfahren, deren Grabstätte sich auf dem charmanten Friedhof von Hegenheim bei Basel befindet, ist zu alt, um einen Sinn zu ergeben, aber meine Eltern hegten beide eine große Bewunderung für die deutsche Kultur. Die Tatsache, dass meine Mutter als Auschwitzüberlebende und Widerstandskämpferin eines Tages das Offensichtliche aussprechen konnte, dass nämlich das Deutsche die Sprache Goethes war, bevor sie von Hitler missbraucht wurde, hat mich ohne Zweifel befreit. (...)
Später führten mich einige Urlaubreisen in die DDR, wo junge französische Rebellen (wie wir) sich kaum an die Regeln in den Sommerlagern der Betriebe aus Berlin-Köpenick gewöhnen konnten. Danach habe ich meine Beziehung zu den beiden damaligen deutschen Staaten sehr bald über die Architektur geknüpft. Systematisch habe ich die wichtigsten Orte der Architektur und des Städtebaus der Moderne erkundet, ich besuchte die großen Ausstellungen in den 1970er Jahren und erwarb mir so im Selbststudium eine Kultur, die damals in der französischen Lehre fast völlig fehlte – sei es in den Architekturschulen oder an den Lehrstühlen für Kunstgeschichte. (...)
 
Wider eine illusorische Architekturtheorie
Mein Freund Manfredo Tafuri, der 1995 verstorben ist, hatte 1968 einem seiner Bücher – übrigens seinem schwierigsten – den Titel Teorie e storia dell'architettura gegeben. Dabei hat er darauf geachtet, Theorien im Plural zu nennen und Geschichte im Singular. Ich bin versucht, ihm auf diesem Weg zu folgen und denjenigen Tendenzen zu misstrauen, die eine monolithische Architekturtheorie bilden wollen. Mich interessieren die vielen Formen des Theoretisierens viel eher als die Theorie mit einem großen T – eine typografische Unterscheidung, die im Deutschen in Wirklichkeit unwirksam ist. Für einen Autor meiner Generation, der in täglichem und persönlichem Kontakt zu Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Lacan, Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und Fernand Braudel stand – all diese Persönlichkeiten prägten die Seminare, die man leicht in einem Radius von wenigen Kilometern besuchen konnte – beinhaltet jegliche wissenschaftliche Forschung ein theoretisches Arbeiten. Aus diesem Grund sollte man im Interesse eines kollektiven Gesprächs über die Disziplin zweifelsohne von dem Theoretischen sprechen, dass heißt von den Hypothesen, auf denen die Diskurse und die dahinter steckenden Fragestellungen fußen, anstatt zu versuchen, eine illusorische Architekturtheorie zu bilden.
 
Narrative Geschichte
So neige ich dazu, mich hier vor allem als Historiker zu definieren, der in einer Linie mit der Arbeit von Manfredo Tafuri steht, der so weit ging zu schreiben: "Es gibt keine Kritik, es gibt nur die Geschichte." Meine eigene Praxis könnte  als die eines Skeptikers betrachtet werden, der seinen Beitrag zu einer oft narrativen Geschichte leistet. Die Erzählungen, die ich schätze, werden von ganz präzisen Beobachtungspunkten oder -gebieten aus konstituiert. Sie ermöglichen es, den Lebenswegen von Architekten wie André Lurçat und Mies van der Rohe zu folgen, oder dem, wie man weiß, sehr verschlungenen Weg von Le Corbusier. In dieser Art von Biografie habe ich wohl vor allem versucht – und manchmal ist es mir auch gelungen –, die Verknäuelung zwischen den Leidenschaften der Betreffenden, ihren Werken und Einwirkungen von außen zu entwirren.
(...) Außerdem habe ich Orte des Austauschs und der Idealisierung zwischen nationalen Szenen studiert: die der Hegemonie Amerikas über den Rest der Welt, die man als Amerikanismus bezeichnet, aber auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen Frankreich und Italien, Deutschland und Frankreich oder zwischen der russischen Avantgarde und dem Westen. (...) Bei all diesen Unternehmungen (...) bemühe ich mich, eine Geschichte der Architektur und des Städtebaus zu praktizieren, die sich an andere Geschichtsschreibungen angliedert: die der Städte, der materiellen Kultur, der Kunstkultur und schließlich an etwas, was man – je nachdem – Geistesgeschichte oder Ideengeschichte nennt. Begriffsbestimmungen sind hierbei komplex, da sich das Verständnis eines Projekts oder Gebäudes nicht einfach durch Akkumulieren von Observierungsebenen erschließt, sondern zudem in narrativer Form innerhalb einer leserlichen Erzählung restituiert werden muss.

Das theoretische Objekt
Der Begriff des "theoretischen Objekts", den mein Doktorvater, der Kunsthistoriker Hubert Damisch geprägt hat, als er eine Säule oder eine Mauer als ein Objekt identifizierte, das die dominierenden Interpretationen von Architektur in Frage stellen könnte, hat eine tragende Rolle zum Verständnis architektonischer Dispositive.
Dieser Begriff ermöglicht ein Denken, das die architektonischen Formgebilde – oder Dispositive – und die ihnen immanenten theoretischen Fragestellungen zu einander in Bezug setzt, und er kann auf den Maßstab urbaner Strukturen (Straße, Platz oder Block) ausgeweitet werden. Ich möchte also eine Art Begriffsverfälschung vorschlagen und "theoretisches Terrain" ableiten. Damit sind weniger Terrains gemeint, auf die man die Theorie loslässt, sondern solche, wo gebräuchliche Interpretationen nicht greifen. Als Beispiel seien Staatsgrenzen oder räumliche Begrenzungen genannt. (...)
Wird die Wahl dieser "theoretischen Objekte" durch die Tatsache bestimmt, dass ich Historiker und Architekt bin, oder eher ein Historiker in der Architektur, um das Wort von Walter Benjamin über den "Autor als Produzenten" zu paraphrasieren? Ohne Zweifel, jedenfalls hat sie nichts zu tun mit dem Wunsch, brauchbare Muster für eine Entwurfsarbeit zu finden. Ambitionen, Potential und Illusionen der Architektur können anders gedacht werden, wenn man die weißen Flecken und die Grauzonen einer noch nahen Zeitgeschichte erkennt und sie in eine transformierte Geografie und Geschichte einschreibt. Dies beinhaltet auch, dass man die Helden, die zu oft im Zentrum historischer Erzählungen oder zeitgenössischer Kritiken stehen, von ihren Sockeln holt, ihnen – kurz gesagt – ihre Menschlichkeit zurückgibt. Jean-Louis Cohen

Jean-Louis Cohen unterrichtet Architekturgeschichte am Institute of Fine Arts der New York University.
Schelling Architekturpreis. Hier finden Sie auch den vollständigen Beitrag von Jean-Louis Cohen als PDF.

Jean-Louis Cohen hält einen Vortrag am:
Montag, 15. Dezember 2010, 18.15 Uhr, Karlsruhe
Egon-Eiermann-Hörsaal, Gebäude 20.40
Englerstraße 7