Politik und Planung

Autor:
ub
Veröffentlicht am
Okt. 24, 2012

Weit weg von Berlin änderte sich am Wochenende die Republik: Ausgerechnet die Schwaben entschieden, nicht nur das Land, sondern auch die Landeshauptstadt grüner Politik anzuvertrauen. Damit kann Stuttgart bestens zur Modellstadt in Sachen klimafreundlicher Energieversorgung und dringend gebotener, neuer, menschen- und umweltverträglicher Mobilität mutieren. Auf Bundes- und Europaebene hinkt die kompromissgebundene Politik derweil hinter Wissenschaft, Wirtschaft und übrigen Gesellschaftskreisen hinterher, die bei diesen Themen zu Änderungen drängen – wie es sich bei der Konferenz "Urban Energies" des BMVBS zeigte.
 
Stuttgarts neuer OB   Seit Sonntag steht fest: Fritz Kuhn, der grüne Realo, zieht in das Stuttgarter Rathaus ein. Es ist ja nicht so, dass die Grünen noch als staatsfeindliche Chaoten die gesamte Wirtschaft und das konservative Bürgertum in Angst und Schrecken versetzen könnten. Nicht einmal Porsche (Zuffenhausen) und Daimler (Untertürkheim) müssen fürchten, dass ihnen ein grüner Landesvater das Geschäft vermasselt, im Gegenteil. Die Autohersteller wissen längst, dass sie zu "Mobilitätskonzernen" reifen müssen und zumindest in europäischen Städten kaum noch auf ihre umweltschädlichen Blechkarossen setzen können, jene PS-strotzenden Auslaufmodelle individueller Mobilität.
Die Innenstadt von Stuttgart – und eben nicht nur die von Stuttgart – erstickt im Verkehr. Lärm, Feinstaub, Abgase und aggressive Verhaltensweisen von Autofahrern lassen sich nicht damit vereinbaren, dass Menschen aus vielerlei Gründen in Städten wohnen und arbeiten sollen und wollen. Konzepte für eine bessere Mobilität, die über die Alternative des Elektroautos hinausgehen, gibt es längst. Und wo, wenn nicht jetzt in Stuttgart soll das Experiment starten, diese Konzepte auszuprobieren? Mit einfachen Mitteln, dem Knowhow der weltweit führenden Mobilitätsindustrie, willigen Bürgern und eben einer Landes- und Stadtpolitik, die aus einem Konsens handeln kann und nicht nach koalitionären Kompromissen suchen muss?
Das Gleiche gilt in Sachen Energie. Mit 46,75 % Anteilen am Energiekonzern EnBW kann das Land Baden-Württemberg den Ausbau erneuerbarer Energien und energieeffizienter Nachrüstung von Haus, Quartier, Stadt und Land rasch voranbringen: Das grüne Duo Kretschmann und Kuhn dürfte sich der Anerkennung überraschend vieler Industrieunternehmen und Gesellschaftsschichten sicher sein. Verkehr und Energieversorgung: Das sind Hauptthemen im Bereich "urbaner Energien".
 
"Urban Energies" beim BMVBS   Müßig wäre es, dabei auf nennenswerte Unterstützung des Bundes zu hoffen, der herkömmliche, wachstumsorientierte Verkehrspolitik verfolgt. Ein Thema wie "Urban Energies" mit frischer Tatkraft und offenem Ergebnis voranzutreiben, traut man der derzeit regierenden Berliner Politik eher nicht zu. Genauer besehen, sagt der Titel "Urban Energies" – der Titel einer hoch angesetzten Konferenz des BMVBS in Berlin (11. und 12. Oktober 2012) – ja auch gar nichts Konkretes aus. Hunderte Beamte, Politiker, Lobbyisten und Hochschulvertreter stellten sich in Berlin ein; man schaute, was die Charta von Leipzig denn bewirkt haben mag (den Link zur Studie dazu finden Sie in der Seitenspalte; zur Charta 2007 berichteten wir im Magazin 42/2007), lauschte Gästen aus dem Ausland und konnte in den Pausen gut "netzwerken". Versammlungen wie diese wirken merkwürdig hermetisch, weil sie eigentlich nur einen einzigen Zweck haben: politische Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema zu lenken. Debatten sind unerwünscht, folgerichtig glich zum Beispiel die "Arena" zur Wirkung der fünf Jahre alten Leipzig-Charta einer "Selbstbeweihräucherung" (ein von Applaus begleiteter Einwurf aus dem Publikum). Saskia Sassen hatte den Begriff "Urban Energies" im Plenum wenigstens weit gefasst und auch die gesellschaftspolitische Kraft des Urbanen mit neuen Aspekten erläutert, etwa der Stadt als Open Source-System und der Stadtbewohner als Hacker.
 
Das Memorandum – ein Kompromiss   Von solchen internationalen Konferenzen des Bundes müssen natürlich Signale ausgehen. Zum Beispiel in Form eines Protokolls (Kyoto) oder eines Memorandums. Meistens entstehen in politischen Gremien, Institutionen und in ihrem Dunstkreis langatmige Studien, aufgeplusterte Gutachten, belanglose Positionspapiere, halbherzige Manifeste, banale Resolutionen. Allesamt neigen sie zur Unverbindlichkeit, zum Unkonkreten, zum Unverfänglichen, auch zum Überflüssigen. Und sie passen inzwischen zu einem sprichwörtlichen Politikerverhalten: Mit vielen Worten wenig sagen. Das alles kostet aber viel (Steuer-)Geld und bindet Arbeitskraft, die andernorts gebraucht wird. Das Problem ist ein systemimmanentes und zwingt eigentlich vernünftige und kenntnisreiche Menschen zu Verlautbarungsformen, die ans Groteske grenzen.
An einem Memorandum wie dem Berliner 2012 (den Link zum Download des Memorandums finden Sie in der Seitenspalte rechts) sind ziemlich viele Interessenvertreter auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner beteiligt – und es ufert umso mehr aus, je kleiner der gemeinsame Nenner aller Beteiligten werden muss. Anders gesagt: Viele Köche verderben den Brei.
Als Verfasser der ersten Memorandumsversion "Städtische Energien – Zukunftsaufgaben der Städte" wurden in Berlin Klaus J. Beckmann (Difu), Harald Bodenschatz (TU Berlin und DASL), Manfred Hegger (TU Darmstadt und DGNB) und Engelbert Lütke-Daldrup (ehem. Staatssekretär) benannt. Im Anschluss ging das Memorandum durch diverse Gremien und schließlich durch die Mühlen des BMVBS mit allen Konsequenzen der Erweiterung und Abschwächung.
Nun darf man in einem Memorandum natürlich keine weltliterarischen Qualitäten vermuten, aber die letztlich 50 Paragraphen in 4 Kapiteln des Berliner Memorandums – 1. Präambel, 2. Schlüsselaufgaben nachhaltiger Stadtentwicklung, 3. Bündnis für eine nachhaltige Stadt: Städtische Energien, 4. Aufruf zu gemeinsamem Handeln – strotzen vor Allgemeinplätzen, Unverbindlichkeiten, Selbstverständlichem und Wiederholungen. Wieviele "Köche" an diesem Memorandum letztlich doch mitgewirkt haben, kann man nur ahnen. Nennenswerte Aspekte anzusprechen und konkrete Förderpolitik vorzuschlagen, hätte auf höchstens zwei statt zehn Seiten gelingen können. Energieeffizienz nicht nur aufs Haus, sondern aufs Quartier und die Stadt zu beziehen und konventionelle Verkehrspolitik mit konkreten Korrekturvorschlägen für eine vernetzte, technisch avancierte Mobilität zu befruchten – dafür bedarf es keiner 50 Paragraphen.
 
Geld als Steuerungsmittel der Politik   Nun ist das Lamento über Bürokratismus und die Trägheit politischer Entscheidungsstrukturen weder neu, noch unterhaltsam. Wie flink aber ein gigantisches Projekt wie die "Energiewende" inklusive Atomausstieg dennoch lanciert werden kann, wissen wir ja: Im März 2011 erschütterte ein Erdbeben mit Tsunamifolgen Fukushima, im Herbst 2011 war die Energiewende quasi beschlossene Sache. Die Trägheit der Politik zu beklagen und Alternativen anzumahnen, muss also erlaubt sein, denn gerade im Bereich Bauen, Wohnen, Verkehr steuert die Politik mit einem Instrument, das in der Sache und im Tempo extrem wirksam ist: dem Geld. 2012 waren im Etatentwurf für das BMVBS im Gesamtetat rund 25,93 Mrd Euro vorgesehen, der Investitionsanteil sollte bei rund 14,17 Mrd Euro liegen. Für den Verkehr veranschlagte man insgesamt rund 10,52 Mrd Euro. Für die Städtebauförderung waren rund 455 Mio Euro beziffert, für "Energetische Stadtsanierung" rund 92 Mio Euro. Das Programm "Energetische Gebäudesanierung" wurde mit rund 1,5 Milliarden Euro weitergeführt. (1)
Um an diese Fördergelder zu kommen, nehmen Lobbyisten und andere Interessenvertreter aller Art Einfluss auf die Ausrichtung der Förderprogramme und scharwenzeln gern in politischen Kreisen, in den "Netzwerken" herum.
 
Es geht auch anders – im Konsens   Eingangs der Konferenz hatte Minister Ramsauer noch die Chance erwähnt, aus der deutschen "integrierten Stadtentwicklung" einen "Exportschlager" zu machen. Doch als man gehört hatte, wie Jaime Lerner, einst Oberbürgermeister der brasilianischen Stadt Curitiba, schon vor Jahrzehnten den Individualverkehr zugunsten des ÖPNV zu reduzieren wusste und wie es Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris gelungen ist, die kilometerlange Strandpromenadenstraße von Autos zu befreien, wünschte man sich, dass diese beiden Modelle "Importschlager" in Deutschland werden. Auf kommunaler Ebene zu handeln, Experimente zu wagen und das verlorene Vertrauen der Bürger wieder zu gewinnen, wäre eine Option für Stuttgart. Wenn Winfried Kretschmann und Fritz Kuhn ihre Chancen zu nutzen wissen, können sie eine gestaltende, weit vorausschauende Politik betreiben, statt auf alte Begehrlichkeiten zu reagieren. Bürger einzubeziehen, könnte beschleunigend wirken, weil sie – die Bürger – längst aus der Neinsager- und Protestecke raus sind. Eine neue Studie der RWE wurde gestern (22.10.2012) in der Süddeutschen Zeitung zitiert: "Ihnen (den Bürgern) ist das Vertrauen abhanden gekommen – sowohl in die Politik als auch in große Unternehmen. Das Vertrauen in die Vorhabenträger bewegt sich auf einen dramatischen Tiefpunkt". (2) Kein Wunder, dass sie, die Bürger, die Dinge lieber selbst in die Hand nehmen wollen. Während sich in weiten Teilen der Gesellschaft in den Fragen von Energie und Mobilität Konsens abzeichnet, verheddert sich die (Real-)Politik noch in der Suche nach Kompromissen.  ub
(1) Quelle: BMVBS
(2) Süddeutsche Zeitung, 22. 10. 2012, >Wirtschaft

Download der Studie 5 Jahre Leipzig Charta
(Zur Charta von Leipzig 2007 siehe Christian Holl in der Kw 42/2007)
Der ehemalige Staatssekretär Engelbert Lütke-Daldrup hält am 23. November 2012 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar einen Vortrag zum Thema "Erfahrungen und Perspektiven der integrierten Stadtplanung entsprechend der Leipzig Charta"

Download des Memorandums 2012,  "Städtische Energien – Zukunftsaufgaben der Städte"

Die Haushaltsdebatten zum BMVBS 2013 vom 14.09.2012

Die RWE-Studie zum Umgang mit Infrastrukturprojekten
(Vorstellung am 7. November 2012)

Audi Urban Future Award 2012