Zerstörte Heimat

Autor:
Claudia Hildner
Veröffentlicht am
Aug. 24, 2011

Um die vom Tsunami betroffenen Gebiete in Nordostjapan ist es ruhig geworden. Wie es den Menschen geht, die beim Tsunami alles verloren haben, lässt sich über die Medien kaum in Erfahrung bringen. Welche Rolle spielt die Architektur, spielen die Architekten bei Soforthilfe und Wiederaufbau? Und wie muss die Stadt aussehen, die diesen Menschen dauerhaft ein neues Zuhause bieten kann?
 
Fast ein halbes Jahr ist das Touhoku-Erdbeben inzwischen her. Während sich die internationalen Medien zunächst mit ihrer Berichterstattung zur Katastrophe überschlugen, ist es nun ruhig geworden. Das Ganze scheint abgehakt – wenn überhaupt noch etwas in den Nachrichten auftaucht, so sind es das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi und die Folgen des Super-GAUs.
Das Bild, das die Medien durch ihr Schweigen zeichnen, hat wenig mit der Realität zu tun. An der Situation der Menschen, die durch den Tsunami ihr Zuhause (und meist auch Angehörige und Bekannte) verloren haben, hat sich seit dem Erdbeben kaum etwas verändert. Die meisten leben nach wie vor auf engstem Raum in öffentlichen Gebäuden, oft in Turnhallen oder Schulen. Die Überreste der Häuser, in denen sie gelebt haben, sind noch längst nicht aus dem Weg geschafft. Roland Hagenberg – ein in Tokio ansässiger Autor, Fotograf, Filmemacher und Publizist – hat den Nordosten Japans kurz nach der Katastrophe besucht. Dass die Aufräumarbeiten so lange dauern, wundert ihn nicht. Er lenkt den Blick auf die Zahlen: Schließlich sei ein bis zu zehn Kilometer breiter Küstenstreifen auf mehrere hundert Kilometer Länge überflutet worden. Von etwa 560 Quadratkilometern Land ergriff der Tsunami insgesamt Besitz – eine Fläche so groß wie 76.000 Fußballfelder oder 3,5 mal das Fürstentum Liechtenstein. Über 100.000 Gebäude stürzten vollkommen ein, weitere 150.000 wurden zumindest teilweise zerstört. Da auch Straßen und Brücken beschädigt sind, ist es schwierig, notwendige Gerätschaften in die betroffenen Gebiete zu senden.
 
Die japanische Regierung ist mit dem Ausmaß der Katastrophe überfordert. Nicht nur Nordostjapan wurde schwer getroffen, auch die bisherige Politik ist vom Beben erschüttert worden. Die Auswirkungen der Klüngeleien zwischen Industrie und Politik, die in Japan besonders stark ausgeprägt sind, wurden mit einem Schlag sicht- und spürbar.
Ende Juni konnte immerhin endlich das "Ministerium für Wiederaufbau" gegründet werden – die Voraussetzung dafür, dass Staatsgelder in die betroffenen Regionen fließen können. Der designierte Minister jedoch musste nach einer Woche bereits zurücktreten – er hatte auf einer Reise in eine der teilweise zerstörten Städte geäußert, Gemeinden, die selbst keine Ideen zum Wiederaufbau hätten, werde auch nicht geholfen.
Wenn die Regierung schwächelt, kommt es auf den Einzelnen an – das haben auch viele Architekten in Japan erkannt und unabhängig vom politischen Geschehen selbst die Initiative ergriffen. Einer der ersten, der auf die Situation der Menschen in Nordjapan reagierte, war Shigeru Ban. Der Architekt beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit temporärer Architektur für Notstandsgebiete. Dabei stellte er fest, dass "eines der größten Probleme die große Dichte ist, denen die Überlebenden ausgesetzt sind. Bei den Notfallunterkünften handelt es sich meist um Hallen, in denen sich Familien den begrenzten Raum mit Fremden teilen müssen." (Interview vom Mai 2011) Mit seinem "Paper Partition System 4" (PPS4) erhalten die einzelnen Familien voneinander abgegrenzte Bereiche, die zumindest ein wenig Privatsphäre schaffen.
 
 
Shigeru Ban gliederte seine Hilfe für Touhoku in mehrere Phasen: Im Moment arbeitet das Büro an einem System, mit dem sich schnell und günstig lebenswerter Wohnraum schaffen lässt. Trotz des temporären Charakters der Unterkunft, und obwohl aus Kosten- und Logistikgründen vorgefertigte Standardmodule genutzt werden müssen, sollen sich die Bewohner dort zuhause fühlen können. Finanziert wird das Ganze unter anderem über Spenden an das "Voluntary Architects' Network", das von Ban selbst gegründet wurde. Mittel der Wahl sind dabei Container, die auch bei Hilfskonzepten anderer Architekten eine große Rolle spielen. Etwa bei Yasutaka Yoshimura, der vor einigen Jahren in Yokohama ein Container-Hotel geschaffen hat und dieses System nun auf Notunterkünfte für Touhoku übertrug. Seit Ende Juli ist der Prototyp des "Ex-Container-Project" fertiggestellt – ähnlich wie bei Ban sind die Wohnheiten so ausgelegt, dass die Menschen dort eine lange Zeit leben können, was bei der Geschwindigkeit, mit der die politischen Entscheidungen bisher getroffen werden, von Weitsicht zeugt. Architekt Yasuhiro Yamashita hingegen schlägt mit "Mobile Smile" bewegliche Häuser vor, die – nachdem die zerstörten Gebiete aufgeräumt sind und die Infrastruktur wieder funktioniert – dorthin transportiert werden können. Weitere Konzepte für Unterkünfte, mal mehr, mal weniger für die temporäre Nutzung geeignet, finden sich hier.
 
Temporäre Unterkünfte benötigen die Menschen in den zerstörten Gebieten unmittelbar. Doch wie können und sollen die Städte aussehen, in die sie irgendwann zurückkehren werden? Nach dem Beben warfen viele mit Ideen um sich: Gartenstädte sollten geschaffen werden, zum Meer hin mit hohen Wällen abgegrenzt. Die Meldung über die Stadt Fudai, die den Tsunami fast unbeschadet überstanden hat, weil der ehemalige Bürgermeister eine kolossale Betonbarriere errichten ließ, ging nach dem Beben durch die Presse. Doch kann es eine Lösung sein, die Nordostküste Japans mit einer riesigen Wand vom Meer zu trennen? Tatsächlich wäre das eine ganz und gar "unjapanische" Lösung. In Nippon hat man der Natur traditionell nicht getrotzt, sondern versucht, mit ihr zu leben und flexibel auf sie zu reagieren. Aber auch die traditionellen, nachgiebigen Holzkonstruktionen, die den Erdbeben relativ gut standhielten, hatten gegen einen Tsunami kaum eine Chance.
Andere schlagen daher vor, die Siedlungen komplett von der Küste fernzuhalten, ins hügelige Hinterland auszuweichen – schließlich sei dieser Tsunami kein singuläres Ereignis, die Gegend wurde über die Jahrhunderte immer wieder vom Meer überrollt. Die Verlegung einer Siedlung ist ein schönes Gedankenspiel, aber in der Realität würde sie erfordern, die Infrastruktur vollständig neu anzulegen. Ebenso unrealistisch sind viele weitere Ideen, die zur Zeit kursieren.
Yasuaki Onoda, Architekturprofessor an der Touhoku Universität und Gründungsmitglied der Organisation ArchiAid, beschreibt in der Ausgabe 82 der Zeitschrift "Japan Architect", worauf es bei der Ideenfindung im Moment wirklich ankommt: Plattformen zu schaffen, in denen die Planer verschiedener Disziplinen mit den Anwohnern zusammenarbeiten können, die Komplexität jeder einzelnen Stadt zu entschlüsseln und daraus realistische Szenarios zu entwickeln. Zudem müssten Methoden gefunden werden, mit denen das Wissen um die Folgen, die Erdbeben und Tsunami haben können, bei den nachfolgenden Generationen lebendig bleiben.
Bei den neuen Planungen kann das, was war, nicht komplett vernachlässigt werden – die Küstengebiete sind keine Tabula Rasa, denn es gibt die Erinnerungen der Menschen, die am Ort nach Halt suchen. Was passiert, wenn man den heimatlosen Bewohnern eine Utopie aufzwingt, zeigt die Stadt Gibellina in Sizilien. Die Gemeinde wurde 1968 bei einem Erdbeben zerstört. In den Siebziger- und Achtzigerjahren baute man den Ort als "Gibellina Nuova" an anderer Stelle wieder auf – als eine moderne Stadt mit vielen zeitgenössichen Kunstwerken. Den Grundriss der zertörten, kleinteiligen Gemeinde goss man am Originalort zwei Meter hoch in Beton. Die meisten Menschen, die das Unglück erlebt haben, können nur mit dem Betonklotz, in dem die alten Erinnerungen lebendig werden, Heimat verbinden. Claudia Hildner

Claudia Hildner arbeitet in München als freie Architekturjournalistin; sie lebte von 2010 bis Anfang 2011 in Japan.