Wo das Posthorn schweigt

Autor:
ch
Veröffentlicht am
Juli 13, 2011

Das Land erfreut sich anscheinend großer Beliebtheit – als Rückzugsraum und Projektionsfläche für die Sehnsüchte von Stadtbewohnern. Die sehen dort den Ort des gelingenden Lebens, ungestört von Börsenkursen, Eurokrisen, Terrorängsten. Von wegen. Die Lage in vielen ländlichen Gegenden ist prekär. Und das wird sich erst ändern, wenn die rosaroten Brillen abgelegt werden. Wenn nicht idealisiert, sondern umgedacht wird.
 
Gerade war doch noch von der Renaissance der Stadt die Rede – schwingt das Pendel nun wieder zurück? Wenn der Zeitschriftenmarkt aussagekräftig wäre, dann schon – die Zeitschrift "Landlust" erreicht eine Auflage von 800.000. Laut Wikipedia ist die Lebensstil-Publikumszeitschrift aus dem Segment der Wohn-, Garten- und Koch-Magazine nach eigenen Angaben Marktführer und zählt damit zu den 20 auflagenstärksten Kaufzeitschriften Deutschlands insgesamt. Derzeit heißt es auf der Internetseite: "Im Hochsommer weicht die Blütenpracht sanfteren Tönen. Wir laden zum Gartenbesuch ein und wandeln auf den Spuren der Romantiker." Auf den Spuren der Romantiker muss man wohl wahrlich wandeln, denn die Wirklichkeit auf dem Land schaut anders aus.
Nicht nur mal zur Erholung auf den Spuren der Romantiker zu wandeln, dazu verspüren immer weniger Lust: Die Abwanderung aus den ländlichen Räumen hält an, in den Kernen vieler Dörfer stehen die Häuser leer und verfallen. Die Folgen sind teilweise dramatisch. Kinder haben lange Wege in die Schulen, die Kosten zur Erhaltung der Versorgungs- und Infrastruktur steigen. Das Land, von dem in "Landlust" geschwärmt wird, ist eine Projektion der Städter. Sie ist wenig hilfreich, die Probleme, die sich stellen, tatsächlich anzugehen. Hier ist harte Arbeit gefragt, vor allem eine, die in den Köpfen stattfinden muss. Durch ein Wandeln auf den Spuren einer verklärten Vergangenheit wird nichts bewegt werden, werden die Diskrepanzen zwischen romantisierter Illusion und harter Realität nur vertieft und sich im schlimmsten Fall in touristisch vermarkteten Idyllenenklaven niederschlagen. Doch hatte nicht Hölderlin behauptet: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch"? Wenn Zeitschriften wie "Landlust" den Blick auf die Wirklichkeit trüben, wo könnte denn das Rettende wachsen?
 
Chance 1: Naturschutz und Tourismus
Eine Branche wird früher oder später immer genannt, wenn es um die wirtschaftlichen Grundlagen des ländlichen Raums geht: der Tourismus. Und gerade für den ist das Heile-Welt-Bild des Lebens auf dem Lande bare Münze wert. Aber auch hier könnte ein Umdenken helfen. In seinem Buch "Naturschutz" zeigt Josef Reichholf, dass in Städten und Vororten der Artenreichtum größer ist als in Wäldern, auf Feldern und in so manchem Gewässer. Reichholf zeichnet zwar ein etwas, wie er selbst findet, zu düsteres Bild vom Naturschutz – aber auch deswegen, weil es nicht gelingt, dessen Erfolge sichtbar zu machen. Was eben fehlt, sind oftmals auch die Voraussetzungen, um die Freude an der Natur zu befriedigen, die Energien zu wecken, sich für sie einzusetzen, weil der Zugang zur Natur durch Verbote begrenzt wird. Dabei sind die, die sich für die Natur interessieren, nicht die, die zerstören, was sie suchen: "Der Hauptgrund für die Unwirksamkeit des Artenschutzes bei der großen Mehrheit der Kleintiere und bei den weitaus meisten geschützten Pflanzenarten sind die Folgen von Land- und Forstwirtschaft. Auf sie entfallen 90 Prozent der Bestandsrückgänge von Flora und Fauna." Und an anderer Stelle: "Die allermeisten in Schutzverordnungen enthaltenen Beschränkungen wären unnötig, stünden Naturschützer vor Ort zur Verfügung, um interessierten Bürgern zu erläutern, was es hier Besonderes gibt und worauf zu achten ist. Insbesondere im Artenschutz treffen die Verbote mit den Naturfreunden die Falschen." Also: statt unwirksame Verbote aufrechtzuerhalten, sollten die Menschen die Gelegenheit bekommen, Natur wirklich zu erleben. Sie würden erleben, dass die Natur sich ständig verändert, und nicht statisch ist. Vielleicht würden dann zumindest sie aufhören ihre Blicke zumeist nach hinten auf ein verklärtes Früher zu richten – und auch auf dem Land könnte sich etwas ändern.

Chance 2: Die Energiewende
Der Atomausstieg ist vorerst besiegelt – doch nun muss entschieden ein Weg der Dezentralisierung betrieben werden. Das ist kein Selbstläufer. In der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" sehen die Autoren "die Gefahr, dass die Energieversorgung auch künftig von wenigen Unternehmen kontrolliert wird, sich also bei erneuerbaren Energien ähnlich zentralisierte Strukturen entwickeln, wie sie heute im Bereich fossiler Energieträger bestehen. Gefordert ist die Politik. Sie muss klare Ziele vorgeben, die die solar-vernetzte, dezentralisierte Energieversorgung stärken und dadurch den Rahmen für wirtschaftliches Handeln bestimmen."
 
Wie gut auch immer dies gelingen wird, die Energiewende wird Landwirtschaft und Landschaften verändern, weil sich Nutzungsstrukturen ändern werden: durch Biomasseproduktion und Kurzumtriebplantagen, Biogasanlagen, Windräder und großflächige Solaranlagen. Das birgt Raum für Konflikte, gerade weil im Bild der Landschaft Verlusterfahrungen kompensiert werden – ob die Energiewende bewältigt werden kann, wird sich darin zeigen, wie diese Konflikte bewältigt werden können. Der Erfolg von "Landlust" sollte eine Warnung sein, diese Aufgabe nicht zu unterschätzen.
Was sollte nun der Hoffnung Auftrieb verleihen, dass die Hochleistungslandwirtschaft der Gegenwart durch eine nachhaltigere Struktur ersetzt werden wird? Möglicherweise einfach die Tatsache, dass die Energiewende forciert wurde, um zukünftigen Generation keine verbrannte Erde zu hinterlassen. Nachdem der Atomausstieg nun besiegelt ist, sollten sich gerade die, die ihn am lautesten gefordert haben, aufgerufen fühlen, ein Zukunftsbild zu entwerfen, das Konflikte nicht ausblendet, und deutlich macht, warum es sich lohnt, ihnen nicht aus dem Weg zu gehen. Dezentrale Energiestrukturen, eingebunden in ein Konzept der lokalen Wirtschaftskreisläufe, könnten, konsequent unterstützt, gefördert und gestärkt ein Baustein sein, die Spirale des Niedergangs in ländlichen Räumen zu durchbrechen.

Chance 3: Neue Spielräume
Der ländliche Raum bietet auch Freiheiten. Er ist ein Raum für Pioniere. Wolfgang Kil hat darauf seine Hoffnung gerichtet, Kerstin Faber und Philipp Oswalt haben sich auf die Spuren der Raumpioniere in ländlichen Regionen begeben. Der ländliche Raum ist ein Raum für Experimente, technische, soziale, wissenschaftliche. Strohballenhäuser, Bioenergiedörfer, wiedereingenässte Moore und extensive Landwirtschaft. Ein Raum auch für die, die hohe Ansprüche haben. Christoph Keller, Kunstbuchverleger, brennt am Bodensee Schnäpse. Die besten. Mit Alexander Stein hat er einen Schwarzwaldgin auf den Markt gebracht, der zum Kultgetränk geworden ist.
Und es gibt die, die kulturelles Neuland betreten. Zum Beispiel Ton Matton: Er lebt seit über zehn Jahren in einem Dorf in der Nähe von Schwerin, auf einem großen Areal finden sich Platz und Ressourcen für seine Arbeit. In der fragt er danach, wie Land und Stadt zusammenhängen und sich aufeinander beziehen. Seine Klimamaschinen schaffen in der Stadt ländliche Produktionsräume und bringen Menschen zueinander, die sonst nicht voneinander wüssten – "Praktiken des Ruralen werden ins Urbane integriert" (Christopher Dell zur Arbeit Ton Mattons). Und darum geht es doch auch, um die schon lange nicht mehr gültige Zweiteilung der Welt in Stadt und Land. Das heißt nicht, dass es keine Teilungen gäbe, aber sie sind komplex und differenziert. Was spricht dagegen, Urbanes und Rurales sich gegenseitig stärken zu lassen, diese Potenziale zu suchen und zu benennen, wenn die Verschränkungen doch schon lange Realität sind und nur der verklärte Blick es nicht wahrhaben will?
 
Chance 4: Neue Verantwortlichkeiten
Aber auch der politische Rahmen muss stimmen, sollen sich diese Potenziale entfalten können. Richtig ist zwar, dass die Politik schon längst um die Probleme weiß, die zeigt eine Fülle von Programmen und Initiativen. Das allein reicht aber nicht – oder ist vielleicht gerade nicht das Richtige. Auch hier muss umgedacht werden. Ein Bericht der Montag-Stiftung zitiert Jan Sternberg: "Keine Förderpolitik von oben, nur lokaler Mut und neue Ideen können den Niedergang stoppen – mehr Kompetenz für die Kommunen, Bürokratieabbau, Öffnungsklauseln. Auch das wissen wir seit Jahren. Zeit, dass es mal jemand ernst nimmt." Mehr Selbstverantwortung für die kommunale Politik statt paternalistischer Programme, das heißt aber auch genau zu prüfen, wo diese Selbstverantwortung sinnvoll und wie dies zu finanzieren ist. Hier würde Dezentralisierung konkret. Aber es muss auch verstanden werden: Damit wird zunächst kein Problem gelöst, sondern nur die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Probleme gelöst werden können. Und: Selbstverantwortung verlangt auch Kompetenz, Kompetenz, die gerade in kleinen Kommunen oft nicht anzutreffen ist – und sich deswegen die Frage danach stellt, ob die heutigen Gebiets- und Verwaltungseinheiten noch die richtigen sind. Der bereits zitierte Bericht stellt daher die "an funktionalen Verflechtungen orientierten Großkommunen, die den heutigen regionalisierten Lebensweisen eher Rechnung tragen" zur Diskussion. Diese Diskussion muss geführt werden – und man hofft, dass "der mit der Zeit zunehmende Handlungsdruck und ein auf Fakten statt Emotionen basierter Diskurs" dabei helfen können. Hoffen wir, dass Hölderlin recht behält. ch