Es war einmal…

kadawittfeldarchitektur
28. Oktober 2015
Die Grimmwelt führt die Topographie des Geländes als begehbare Skulptur fort. (Foto: Jan Bitter)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Zum einen war es spannend ein Ausstellungshaus für das Werk der Brüder Grimm zu schaffen, die ja nicht nur für ihre Märchensammlung bekannt sind, sondern zudem durch ihre Arbeit am Deutschen Wörterbuch eine ganz wesentliche Bedeutung für die deutsche Sprachwissenschaft haben.

Dazu kommt der besondere Bauplatz, der den Entwurf maßgeblich geprägt hat: Das Haus liegt an der südlichen Kante des Kassler Weinbergs inmitten einer denkmalgeschützten Parklandschaft. Ein Ort, den man am liebsten konservieren und selbst als Architekt gar nicht antasten möchte. Der Hang war für den Bau zweier Fabrikanten-Villen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts terrassiert worden. Die sogenannte Henschel-Villa wurde 1945 bei einem Bombenangriff zerstört. Die Relikte dieser Zeit – Terrassen, alte steinerne Treppenanlagen, eine Brunneneinfassung und Mauerfragmente – prägen die besondere Atmosphäre des Ortes und bilden eine passenderweise recht märchenhafte Kulisse für die Grimmwelt.

Die Natursteinfassade lehnt sich an die Materialität und Koloratur der vorgefundenen Stützwände, Mauerreste und Treppenanlagen an. (Foto: Jan Bitter)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Neben der besonderen Topographie und Geschichte des Grundstücks und dem Werk der Brüder Grimm war die Typologie der Treppe eine Inspirationsquelle für den Entwurf. Nicht nur im Hinblick auf das terrassierte Grundstück, sondern auch auf die baukulturelle Bedeutung des Treppenmotivs für die Stadt Kassel im städtebaulichen wie im architektonischen Maßstab. Erwähnt seien hier die Treppenstraße (Kassels Fußgängerzone), die beeindruckenden Treppenhäuser in den architektonischen Perlen der 1950er- und 1960er-Jahre, und nicht zuletzt die Treppenanlagen im Weltkulturerbe Bergpark Willhelmshöhe. Gleichzeitig spielt das Treppenmotiv in den Grimm'schen Märchen häufig eine Rolle.

Die Grimmwelt «wächst» wie eine weitere Befestigungsmauer aus dem Hang hervor und fordert den Besucher regelrecht dazu auf, sie zu erklimmen. (Foto: Jan Bitter)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Das neue Ausstellungshaus führt die Topographie des Geländes als begehbare Skulptur fort. Als große Treppenskulptur ergänzt sie den Park um eine öffentlich zugängliche Anlage mit abschließender Dachterrasse. So wird dem Spaziergänger und Parkbesucher die Fläche zurückgegeben, die der Neubau besetzt. Der Duktus der terrassierten Landschaft wird im Inneren des Baus mit den Split-Level-Ebenen fortgesetzt. Mittelpunkt der Grimmwelt ist der zentrale Auftaktraum, von dem aus sich die einzelnen Ebenen mit ihren unterschiedlichen Themenschwerpunkten erwandern und erforschen  lassen. Das Foyer mit Kasse, Museumsshop und Wartebereichen durchzieht das Gebäude als langer Raum und endet in einem hellen Café mit Panoramablick auf die Kassler Karlsaue und die Südstadt.

Die Fassade ist mit Gauinger Travertin in unterschiedlich hohen Lagen verkleidet. (Foto: Jan Bitter)
Inwiefern haben die Auftraggeber und die späteren Nutzer den Entwurf beeinflusst?

Das Projekt ist aus einem Wettbewerbsentwurf entstanden, dem ein VOF-Verfahren nachgeschaltet war. In diesem wurden die drei bestplatzierten Entwürfe hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit und vor dem Hintergrund von verträglicher Einbettung in den Kontext, Kosten und Terminen geprüft. Jeder Wettbewerbsgewinn steht für ein konsensfähiges Projekt und definiert einen Status quo. Die Grimmwelt ist ein gutes Beispiel für ein Projekt, das in der weiteren Bearbeitung nicht maßgeblich verändert, sondern im Sinne des Konzeptes weiterentwickelt wurde, weil Bauherr, Nutzer und alle Planer das Konzept weitergetragen und an einem Strang gezogen haben. Die Zusammenarbeit mit der Museumsleitung, den Szenografen und Kuratoren war für uns eine große Inspiration. Das Zusammenspiel von Architektur, Ausstellungsarchitektur und den Inhalten der Ausstellung machen als großes Ganzes die Grimmwelt aus.

Öffentlich zugängliche Treppenanlage und Dachterrasse (Foto: Jan Bitter)
Die Dachterrasse gibt dem Parkbesucher die Fläche zurück, die der Neubau besetzt, und bietet einen Ausblick in die Karlsaue. (Foto: Jan Bitter)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

In Zusammenarbeit mit den Projektbeteiligten wurden die Anforderungen aus der Auslobung weiter präzisiert und Optimierungen vorgenommen. So wurde zum Beispiel die Anordnung der inneren Erschließung und die Lage der Museumspädagogik neu nach Süden orientiert. Im Wettbewerbsverfahren waren für die Ausstellungsräume einzelne «Kabinette» gefordert – diese haben wir in Abstimmung mit den Ausstellungsgestaltern  als offenen Raum ohne bauliche Zwischenwände gestaltet. Diese Bereiche werden nun  durch die Ausstellungsarchitektur selbst  räumlich gegliedert. Weiter wurde die barrierefreie Erschließung der Dachfläche mit einer Aufzugsanlage in das Projekt integriert und der Café- und Multifunktionsbereich maßgeblich überarbeitet.

Eine schmalere Treppe verbindet die Dachterrasse mit Vorfahrt und Haupteingang. (Foto: Jan Bitter)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?

Die Stadt Kassel hat sich freiwillig zu einer 30%igen Unterschreitung des Primärenergiefaktors der damals gültigen EnEV 2009 verpflichtet. Hierzu musste insbesondere der Einsatz der Dämmstoffe und -stärken Im Bereich der Fassade und der Dachfläche  abgestimmt werden, da hier besondere Anforderungen gelten.

Das Foyer mit Kasse, Museumsshop und Wartebereichen durchzieht das Gebäude als langer Raum und endet in einem hellen Café mit Panoramablick auf die Kassler Karlsaue und Südstadt. (Foto: Jan Bitter)
Mittelpunkt der Grimmwelt ist der zentrale Auftaktraum, um den sich die einzelnen Split-Level-Ebenen mit ihren unterschiedlichen Themenschwerpunkten gruppieren (Installationen Ai Weiwei und Ecke Bonck). (Foto: Jan Bitter)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

In Anlehnung an die Materialität des Weinbergs, der selbst aus Kalkstein besteht, und der natursteinernen Treppenanlagen und Mauerfragmente – Relikte des Henschel-Hauses, dessen Platz das Ausstellungshaus nun einnimmt – ist die Grimmwelt mit einer Fassade aus einem hellen Naturstein, Gauinger Travertin, in unterschiedlich hohen Lagen verkleidet. Zu Dachfläche und -landschaft führen Treppen aus dem gleichen Stein. Da sich das Thema der terrassierten Landschaft im Innenraum fortsetzt, überzieht ein heller Terrazzoboden sämtliche Böden. Im Foyer und Café lässt sich an der schrägen Decke der Verlauf der darüber liegenden südlichen Außentreppe verfolgen. Unterstützt wird diese fließende Bewegung dadurch, dass Wände wie Decken mit dem gleichen Material verkleidet sind. Das hier verwendete Eichenholz nimmt Bezug auf das  in den Grimm‘schen Märchen häufig wiederkehrende Wald-Motiv.

Blick in den Ausstellungsbereich ‚Glossar A-Z‘ (Ausstellungsarchitektur von Holzer Kobler Architekturen). (Foto: Jan Bitter)
Lageplan (Zeichnung: kadawittfeldarchitektur)
Grundriss Erdgeschoss (Zeichnung: kadawittfeldarchitektur)
Wegeführung (Zeichnung: kadawittfeldarchitektur)
Grimmwelt Kassel
2015
Weinbergstraße 21
34117 Kassel

Nutzung
Museum

Auftragsart
Wettbewerb mit nachgeschaltetem VOF-Verfahren

Bauherrschaft
Stadt Kassel

Architektur
kadawittfeldarchitektur, Aachen
Projektleiter: Oliver Venghaus
Mitarbeiter: Martina Malsbender, Emma Mc Gloin, Jörg Notbohm, Leonie Horstmann, Diana Lamsfuß, Volker Steinbrenner, Robert Ringhoff (stud.MA), Liessa Riebesel (stud.MA); Daniel Trappen (Interior Design), Christiane Luiz (Interior Design), Andreas Horsky (Visualisierung), Andrea Blaschke (Modellbau)
Ausschreibung, Vergabe: Peter Zdrenka, Michael Wetstein, Isabel Katers
Wettbewerb: Johannes Müntinga, Simon Kortemeier, Martin van Laack (stud.MA)
Fachplaner
Statik: Bollinger + Grohmann, Frankfurt am Main
Ausstellungskonzeption: hürlimann+lepp, Zürich
Ausstellungsarchitektur: Holzer Kobler Architekturen, Zürich
Bauphysik: TOHR Bauphysik, Bergisch-Gladbach
Lichtplanung: Lichtvision Design & Engineering, Berlin
Brandschutz: Neumann Krex & Partner, Niestetal
SiGeKo: Scheyk Ingenieurbüro, Kassel
Prüfstatik: IBB Fehling + Jungmann, Kassel Bad Wilhelmshöhe
Baugrundgutachter: IB Kratzenberg, Kassel Bad Wilhelmshöhe
Signaletik: Heine/Lenz/Zizka Projekte, Frankfurt

Bauleitung
Atelier 30 Architekten, Kassel
Ausführende Firmen
Erdbau, Verbau: Hermanns HTI Bau GmbH & Co. KG, Kassel
Rohbau: ihb Product GmbH, Schleusingen
Förderanlagen: Schäfer Aufzüge GmbH, Waldeck
Dacheindichtung: Schumann Dachdecker GmbH & Co. Betriebs KG, Kassel
Alu-Glasfassade: budo Metallbau GmbH, Warburg
Natursteinfassade: Lauster Steinbau GmbH, Stuttgart
Estrich Terrazzo: Freese Fussbodentechnik, Remda-Teichel
Rauchschutzvorhänge: Stöbich Brandschutz GmbH, Goslar
Tischler: Tischlerei Pfaar GmbH, Edermünde-Besse

Hersteller
Mobile Trennwandsysteme: Dorma
Hohlraumboden: Wego
Höhenausgleich: Knauf Bituperl
Bodenbelag Terrazzo: Freese Fußbodentechnik
Fensterkonstruktionen: Schüco
Fassade, Gauinger Travertin: Lauster Steinbau
Alu-Raffstores: Warema
Screenvorhänge: Soltis
Glasgeländer: System Croso
Vormauerschale Fassade, Gauinger Travertin: Lauster Steinbau
Fasssaden-Konsolen: Fa. Modersohn
Holz- Innenverkleidung, Weißeiche mit B1-Beschichtung: Hunter Douglas
Lamellendecke Sonderausstellung: Haufe
Sanitärkeramik: Duravit
Sanitärtechnik: Geberit
Waschtische, Terrazzo: Freese Fußbodentechnik
Armaturen: Vola, Herzbach Design
Beleuchtung: BEGA, iGuzzini
Tore/ Brandschutztore: Jansen
Glasrohrrahmentüren: Hörmann, Forster
Obentürschließer: Geze
Counterstuhl „Kevi“: Engelbrechts
Massenstuhl (verschiedene Höhen) „7er Serie“: Fritz Hansen
Bürodrehstuhl„ID-Trim“: Vitra
Bürosystem (Schreibtische / Rollcontainer / Stauraum) „M-Pur“:  Planmöbel
Barhocker Verwaltung „ST10 Jean“: E15
Stuhl Museumspädagogik „Tip Ton“: Vitra
Tisch Museumspädagogik „M-Pur“: Planmöbel

Primärenergiebedarf
30% unter EnEV 2009

Gebäudevolumen
24.400m³ (inkl. Dach)

Bruttogeschossfläche
6.000 m²  (incl. Dachfläche)

Kubikmeterpreis
438 €/m3

Gebäudekosten
10.700.000 € brutto

Gesamtkosten
20.000.000 € brutto

Fotos
Jan Bitter

Vorgestelltes Projekt

DGJ Paysages

Le Pardon de la Nature

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