Versailles für Arme: Hauptsache überwältigend

Falk Jaeger
17. janeiro 2022
Ricardo Bofill bei Taller de Arquitectura in November 2021. (Foto: Charles Ganz/World-Architects)

Als Chefkurator Paolo Portoghesi 1980 in Venedig die berühmte 1. Architekturbiennale „La Presenza del Passato“ als Hochamt der Postmoderne feierte, durfte der Katalane Ricardo Bofill nicht fehlen. Damals wurde erstmals das geheimnisvolle militärische Areal des Arsenale mit seinen teilweise ruinösen historischen Hafenbauten für Publikum geöffnet, unter anderem die 320 Meter lange, basilikale Halle der Seilerei „Corderia“. Portoghesi lud 20 Architekten ein, in der „Strada Novissima“ von Säule zu Säule jeweils eine Fassade zu gestalten. So entstand in der Corderia eine geniale Fassadenmodenschau, bei der Bofill mit seinem Beitrag demonstrativ Ledoux zitierte, mit Säulen im Quader-Trommel-Wechsel und schwerem Gebälk. „Taller de Arquitectura“ (Architekturwerkstatt, so der Büroname) und „El Palacio de Abraxas y El Teatro“ war auf der Fassade zu lesen, das Projekt, das im Inneren ausgestellt war.

Ausgebildet in Barcelona und Genf eröffnete der Bauunternehmersohn Bofill 1963 sein Büro Taller der Arquitectura in einer ehemaligen Zementfabrik in Sant Just Desvern (Barcelona). Das Projekt La Fàbrica mit den umgewidmeten rohen Betonbauten und den grün überwucherten aufgeschnittenen Zementsilos, in die er Wohnungen und Ateliers einbaute, machte ihn bekannt. Nebenan türmte er skulpturale Apartmenthäuser Walden 7 auf, bei denen er die Siloformen vielfältig variierte und damit signifikante, wiedererkennbare Häuser schuf.

La Fàbrica in Sant Just Desvern, Barcelona, Spanien, 1973–2012. (Foto: Ricardo Bofill Taller de Arquitectura)

1971 zog es ihn nach Paris. Dort entwarf er 1974 einen städtebaulichen Plan für das ehemalige Schlachthofgelände Les Halles in klassizistischen Formen. Die ersten Säulen waren schon errichtet, als sie Bürgermeister Jacques Chirac, der damals in ein Scharmützel mit dem Präsidenten Valéry Giscard d‘Estaing verwickelt war, wieder abräumen ließ. Gebaut wurde eine inzwischen schon wieder verschwundene gläserne Mall von Claude Vasconi.

Bofill ging den Weg weiter, inzwischen im Schulterschluss mit gleichgesinnten Architekten wie Micheal Graves, Leon Krier, Richard Meier, Stanley Tigerman u.a. Im südfranzösischen Montpellier konnte er ein 36 Hektar großes Kasernenareal als innerstädtisches Quartier beplanen. Die große Aufgabe beantwortete er mit großen Gesten, mit Gebäudefigurationen aus den Musterbüchern von Durand und Ledoux, zum Ufer des Lez hin mit einer riesigen, halbkreisförmigen Säulenwand. Es sind geradezu imperiale Bauformen – gefüllt mit sieben Geschossen Sozialwohnungen – Versailles für Arme. Die Frage stellte sich hier zum ersten Mal bei einem seiner Projekte: Will er wirklich den Sozialmieter durch die Bauform adeln, oder benutzt er einfach nur das Nutzungsvolumen hunderter von Sozialwohnungen, um seine gigantomanischen Bauten zu füllen? Der Vorwurf des Zynismus blieb nicht aus. Seit den Zeiten des Revolutionsarchitekten Ledoux hatte man solche Dimensionen nicht gesehen, und der hatte sie nur gezeichnet. Ledoux war auf der Suche nach dem Schauer des Erhabenen in der Architektur. Bofill auch?

Antigone in Montpellier, Esplanade de l'Europe, 1978 (Foto: Torcello Trio, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Offiziell ging es ihm um identitätsstiftende Bauten und darum, den Menschen aus unteren sozialen Schichten mehr Würde zu geben. Die Idee, Arbeiter in schlossähnlichen Bauten leben zu lassen, hatte der Sozialreformer Charles Fourier um 1820, nur dass der sich eben für das Leben der Menschen interessierte, dass er seinen Phalanstères genannten Anlagen sozialistischen Genossenschaften Raum geben wollte, das Leben in Gemeinschaft propagierte. Bofills Grundrisse der von außen nach innen entworfenen Bauten hingegen lassen keine besondere Zuwendung den Bewohnern gegenüber erkennen. Die Säulen sind ja nicht massiv, sie enthalten Räume, runde Schlafzimmer mit drei Metern Durchmesser. Schwer zu möblieren, wenn man nicht gerade auf ein kreisrundes Lotterbett à la Hugh Heffner steht.
Doch Bofill feierte Erfolge, baute seine barocken Megavisionen auch in der Banlieue von Paris, 1978–83 Les Espace d‘Abraxas in Marne-la-Vallée, oder Le Viaduc in Saint-Quentin-en-Yvelines, der in einen künstlichen See hineinreicht und wie eine Kreuzung aus einem Loire-Schloss und dem Pont d‘Avignon aussieht, nur größer (und, bei Fotografierwetter, durchaus eindrucksvoll).

Walden 7 in Sant Just Desvern, Barcelona, Spanien, 1974. (Foto: Ricardo Bofill Taller de Arquitectura)

Dabei benutzte er das klassische Repertoire formalistisch unkonventionell. Die Bautypen variierte er bis zur Unkenntlichkeit. Die Säulenordnungen verzerrter er in den Dimensionen, mit Säulen (ohne Entasis), Kapitälen, Gebälk, Gesimsen spielte er nach Belieben, Hauptsache überwältigend. Mit monumentalen Baukörpern inszenierte er städtebauliche Räume, imperiale Ehrenhöfe und runde Plätze, deren Zentrum verräterisch leer, sinnentleert war. Keinem Gott, keinem Herrscher wird hier gehuldigt. Seine Version des Massenwohnungsbaus der französischen Vorstädte aus Betonfertigteilen blieb Massenwohnungsbau, die ambitionierten Stadträume wegen ihrer Dimension und der monofunktionalen Wohnnutzung trost- und leblos. 

Bofills Wirken nach der Postmoderne ist rasch erzählt. Dem historistischen Postmodernismus hat er irgendwann Mitte der 1990er-Jahre abgeschworen und sich in den Mainstream eingereiht. Er nutzte seinen Ruhm, um weltweit zu agieren, baute eine Universität in Marokko, ein Hochhaus in Chicago, ein dynamistisches Stadion und das Terminal 1 des Flughafens in Barcelona sowie zahlreiche Bürobauten, nun eben im Internationalen Stil. Einmal noch wurde er monumental: In Barcelona stellte er 2009 das Hotelhochhaus W inform eines gläsernen Segels an den Hafen. Dubai lässt grüßen. 

Ricardo Bofill hat sich weit von Gründungsvater Venturi entfernt, der das Narrativ des Alltäglichen in seinen Bauten ausdrückte. Bofill steht für die Tendenz in den 1980er-Jahren vom eklektischen, spielerisch intelligenten Umgang mit Historismen hin zur historistischen Inszenierung großer Formen. Mit dem ins Extreme gesteigerten Formalismus hat es Ricardo Bofill zum Referenzarchitekten gebracht, der in keiner Revision der Postmoderne fehlt. Am 14. Januar ist Ricardo Bofill in seiner Heimatstadt Barcelona mit Covid-19 gestorben. Er wurde 82 Jahre alt.

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