Ein Wohnhaus in Berlin zeigt, wohin die Entwicklung gehen sollte
Wohnwünsche möglich machen
Falk Jaeger
3. juli 2024
Ausbauhäuser Neukölln (links) und Südkreuz (rechts) von Praeger Richter Architekten (Fotos: Andreas Friedel)
Praeger Richter haben das »Ausbauhaus« zur Marke gemacht. Durch mehrere gebaute Beispiele, aber auch durch ein programmatisches Buch haben sie den neuen Bautypus definiert, in verschiedenen Variationen – auch im Altbau – vorgeführt und setzen damit Maßstäbe.
Manchmal macht’s ein geschicktes Label. »Ausbauhaus«, den sonderbaren Begriff (ausgebaut wird eigentlich jeder Rohbau) haben sich die Berliner Architekten Henri Praeger und Jana Richter nicht etwa einfallen lassen, sondern eher gekapert. Er kommt eigentlich aus dem Fertighausbau und bezeichnet Häuser, die halbfertig geliefert werden und von den Bewohnern per »Muskelhypothek« aus Kostengründen selbst fertig ausgebaut werden können.
Bei Praeger Richter hat er eine etwas andere Bedeutung, denn es geht ihnen vor allem um den freien Zuschnitt und die individuelle Aufteilbarkeit der Wohnflächen. Man baut eine Tragstruktur aus Beton mit großen Spannweiten von Außenwand zu Außenwand und gewinnt stützenfreie Geschossflächen, die durch leichte Trennwände beliebig unterteilt, eben »ausgebaut« werden können. Auch das ist nicht neu, geschieht oft im Bürobau, seltener dagegen im Wohnungsbau, weil Spannweite teuer ist. Natürlich eignet sich das Prinzip auch gut für Baugemeinschaften sowie für Baugruppen, die viel Eigenleistung einbringen wollen.
Südfassade des Ausbauhauses Neukölln (Foto: Andreas Friedel)
Ausbauhaus Südkreuz (Foto: Andreas Friedel)
Ihr Prototyp war das »Ausbauhaus Neukölln«, 2014 in der Braunschweiger Straße in Berlin-Neukölln entstanden, eine Art Rohbauregal mit individuellem Ausbau, bei dem es vor allem auf Minimierung der Baukosten ankam. Trotzdem sind, weil jeder Bauherr seine Wünsche realisieren konnte, optimale, individuelle Wohnungen entstanden, die aber bei Änderung der Lebensumstände, leicht umgebaut werden können.
Jüngst fertiggestellt wurde das Ausbauhaus Südkreuz in Berlin-Schöneberg, das zunächst durch die roten Sonnenschutz-Vorhänge an den Fassaden überrascht, wie sie aus Japan bekannt geworden waren. Schon in Neukölln hatten sie Vorhänge vor den Loggien montiert, eine kostengünstige Lösung, die sich unaufwendig auswechseln lässt und wohl auch ab und zu erneuert werden muss. In Schöneberg bot das Finanzierungskonzept der Bauherren größere Spielräume, sodass man in einem Konzeptverfahren den Zuschlag für das Grundstück erringen konnte.
In diesem Fall haben die Architekten den Bauherren Regelgrundrisse angeboten, die nicht unbedingt durch innovative Wohnformen und Wohnungstypen überraschen, wie sie durch die Freiheit der Flächenteilung denkbar wären. Es ging vor allem um die Kombinierbarkeit verschiedener Wohnungsgrößen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass uns durch jahrzehntelange Prägung durch die Drei-Zimmer-Küche-Bad-Kultur die Fantasie abhandengekommen ist, wie man Wohnwünsche entwickeln und individuell realisieren könnte.
Wohnraum Ausbauhaus Neukölln (Foto: Andreas Friedel)
Wohnraum Ausbauhaus Südkreuz (Foto: Andreas Friedel)
Neben 13 Eigentumswohnungen realisierte die Bauherrengemeinschaft verdienstvollerweise zusätzlich drei Sozialwohnungen, eine kleine Gästewohnung im Dachgeschoss und im Erdgeschoss zwei Gewerbeeinheiten, die »kiezgebunden« zu nutzen sind. Ein Start-up für Gründerseminare sowie ein von den Bewohnern ehrenamtlich betriebenes »Kiezwohnzimmer« mit Atelier zum kulturellen und sozialen Austausch sind eingezogen. Ein Glücksfall in jeder Hinsicht, für die Beteiligten wie für den Kiez und die Stadt.
Ausbauhaus ist freilich nicht das einzige Label, mit dem das Haus punkten kann. Es sei beim Abriss fast vollständig rezyklierbar, heißt es, also sortenrein zu zerlegen. Nach dem Materialkreislaufprinzip Cradle-to-Cradle sollen Downcycling und Müll vermieden werden. Das Prinzip greift aber auch schon während der Nutzungsdauer der Architektur, indem die verschiedenen Bestandteile des Baus hierarchisch behandelt werden. Das Betonskelett kann hundert Jahre stehen und leicht neuen Nutzungen angepasst werden.
Die Holzwände und die Haustechnik sind auf dreißig Jahre ausgelegt. Die Fassaden, ebenfalls aus Holz, sind kurzlebiger, können aber wegen der umlaufenden Balkone ohne Gerüst leicht ausgetauscht oder gestrichen werden. Den kürzesten Zyklus haben die Fassadenvorhänge als äußerste Schicht dieser Hierarchie. Bis auf die Fliesen in den Bädern ist nichts im Gebäude verklebt, auch die Böden können sortenrein wieder ausgebaut werden. Ziel ist, die katalogisierten Bauteile möglichst verlustfrei wiederverwenden zu können.
Konzept »Rohbauregal« Neukölln (Plan: Praeger Richter Architekten)
Prinzipskizze: Lebenszyklus der Bauteile (Darstellung: Praeger Richter Architekten)
Wie oft an der Spitze einer Entwicklung weiß noch niemand, ob und welche dieser als nachhaltig gedachten Techniken des Materialeinsatzes sich durchsetzen und bewähren werden. Hochwertig zu rezyklieren scheint ein ebenso erstrebenswertes wie erreichbares Ziel zu sein. Ein Gebäude aus katalogisierten Bauteilen und Materialien zusammenzusetzen, um es später zu demontieren und die Teile neuerlich zu verbauen, ist eine ganz andere Nummer.
Gustav Düsing und Max Hacke haben das bei ihrem Studierendenhaus in Braunschweig auch angestrebt. Ob es jemals dazu kommen wird, dass das Gebäude sauber zerlegt und anderenorts wiederverwendet wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dazu bräuchte es zertifizierte und digital erfasste Baustoffe und Bauteile, und dazu bräuchte es eine enorme Logistik mit Gebrauchtmaterialhandel und entsprechender Lagerhaltung. Der deutsche Pavillon »Reduce/Reuse/Recycle« auf der Biennale Venedig 2012 zu diesem Thema ließ eine Ahnung davon aufkommen.
Sehen wir es positiv: Beide Häuser habe eine Pionierfunktion, sind Prototypen, Versuchsbauten auf dem Marsch zur großen Bauwende, der über viele unterschiedliche Wege gegangen werden muss. Solange der Aufwand, sortenrein und gar demontierbar zu konstruieren, im Rahmen eines gewöhnlichen Bauprojekts tragbar ist, und das haben Praeger Richter unter Beweis gestellt, sind solche Projekte erwünscht, sinnvoll und zu fördern.
Dazu müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Jana Richter beklagt, dass sowohl das Prinzip Ausbauhaus, als auch das nachhaltig rezyklierbare Haus keine Chance bekämen, von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften in zahlenmäßig bedeutsamer Menge realisiert zu werden. Diese Bauweisen würden deshalb nur von Baugruppen und Genossenschaften aufgegriffen und ein Nischendasein führen. Aber man könnte ja mal damit anfangen, mehr kommunale Ausschreibungen in Form von Konzeptverfahren zu eröffnen, bei denen solche ambitionierten Projekte gezielt initiiert werden. Wenn die Berücksichtigung des CO₂-Footprints und der Ressourcenschonung beim normalen Wohnungsbau ernst genommen werden sollen, zeigen Praeger Richter einen Weg, wohin die Entwicklung gehen könnte.
Ausbauhäuser. Gemeinschaftlich, bezahlbar, regenerativ / Collaborative, affordable, regenerative
Praeger Richter (Hg.)
Deutsch, Englisch
17 × 24 cm
296 Pagina's
Hardcover
ISBN 978-3-86859-615-1
jovis
Purchase this book