Pritzker-Preis für Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal

Elias Baumgarten
19. mars 2021
Foto © Laurent Chalet
„Transformation is the opportunity of doing more and better with what is already existing. The demolishing is a decision of easiness and short term. It is a waste of many things—a waste of energy, a waste of material, and a waste of history. Moreover, it has a very negative social impact. For us, it is an act of violence.“

Anne Lacaton

Es ist immer wieder beeindruckend: Manche Menschen, die über ein außergewöhnliches Talent verfügen, sind besonders bescheiden, aufgeschlossen und ohne jede Allüren. Wenige Augenblicke reichen ihnen, um andere von sich, ihren Ideen und ihrer Arbeit zu überzeugen. An den Luzern Talks im Mai 2019 habe ich Anne Lacaton (*1955) genau so erlebt: positiv, gut gelaunt, inspirierend. In einem kurzweiligen Vortrag erklärte sie die Gestaltung der École Nationale Supérieure d’Architecture, der Architekturschule von Nantes in Frankreich. Ihre Ausstrahlung passte wunderbar zu ihrer Architektur. Das Projekt ist unter den inzwischen über 30 Bauwerken, die Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal (*1954) in Europa und Westafrika realisieren durften, besonders interessant: Es bringt ihr Bild vom Architektenberuf zum Ausdruck. Die Stockwerke der weitläufigen Betonstruktur sind durch breite Rampen miteinander verbunden. Es gibt große Räume ohne festgelegtes Programm. Möglich wurden diese durch die einfache, kostensparende Konstruktionsweise. Sie sollen immer wieder neu angeeignet werden. Nicht nur die Studierenden nutzen sie rege, sondern – und das ist für Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal matchentscheidend – auch viele andere Menschen aus der Stadt und der Umgebung. Das Gebäude ist Bühne für verschiedenste Ausstellungen, Vorträge und Performances – sogar Zirkusvorstellungen fanden dort schon statt. Es sei sehr wichtig, sagte Anne Lacaton in Luzern, junge Architekt*innen für die Beteiligung am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu begeistern. Für ihre Entwicklung brauche es unbedingt die Interaktion mit anderen Disziplinen. Diese Aussagen kommen von Herzen: Nur wenige Gestalter*innen folgen mit ihren Arbeiten so konsequent ihren sozialen, ökologischen und kulturellen Überzeugungen wie die neuen Pritzker-Preisträger. Selten haben Gebäude eine so große gesellschaftliche Wirkungsmacht wie bei Lacaton & Vassal.

École Nationale Supérieure d’Architecture de Nantes (Foto © Philippe Ruault)
Foto © Philippe Ruault
Foto © Philippe Ruault

Ihre vielleicht wegweisendste Arbeit ist indes die Nicht-Umgestaltung des Place Léon Aucoc in Bordeaux (1996). Eigentlich sollte die Anlage erneuert werden – doch nachdem das Duo sie gründlich analysiert hatte, kam es zu einem radikalen Schluss: Nichts soll verändert werden! Der Park funktioniere bereits bestens, man könne ihn nicht verbessern, sagten die beiden. Lediglich die kranken Bäume wurden also behandelt, ein neuer Kiesbelag wurde aufgebracht und die Verkehrsführung modifiziert – eine Sternstunde der jüngeren Architekturgeschichte! Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal meinten es schon immer ernst mit der Wertschätzung für das Bestehende – Jahrzehnte bevor viele Kolleg*innen den Wert des Vorhandenen zu entdecken begannen. Und ihr Ansatz geht dabei weit über ein Flair für die Baugeschichte hinaus.

Lacaton & Vassal mit Frédéric Druot und Christophe Hutin, Transformation der Blöcke G, H und I im Grand Parc, Bordeaux (Foto © Philippe Ruault)
Foto © Philippe Ruault
Foto © Philippe Ruault

Ein weiteres Schlüsselwerk wurde 2019 mit dem EU Mies Award ausgezeichnet: Die Sanierung dreier Wohnblöcke aus den 1960er-Jahren in Bordeaux (2017). Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit den Büros Frédéric Druot Architecture und Christophe Hutin Architecture. Die Gebäude mit insgesamt 530 Wohnungen galten als abbruchreif – die meisten Kolleg*innen hätten sich damals wohl schnurstracks an den Entwurf neuer Häuser gemacht. Nicht so das Team um Lacaton & Vassal: Die Architekt*innen erkannten den Wert der Blöcke und setzten eine Sanierung durch. Die Gebäude wurden mit einer fast vier Meter tiefen Wintergartenzone (ein wiederkehrendes Motiv im Werk des Duos übrigens) aufgewertet: Die Wohnungen sind dadurch viel heller und geräumiger als zuvor. Zusätzlich wurden die Elektroinstallationen erneuert und moderne Aufzüge eingebaut. Insgesamt beanspruchten die Arbeiten nur 12 bis 16 Tage pro Wohnung und konnten zu sehr geringen Kosten von nur EUR 365 pro Quadratmeter ausgeführt werden. „Es gibt keinen Grund“, wie Anne Lacaton der Süddeutschen Zeitung 2014 in einem Interview sagte, „warum ein Raum mit guter Qualität viel kosten muss“. Die Bewohner*innen konnten bleiben, die Mieten wurden nicht erhöht. Das Projekt ist im Sinne der sozialen wie auch der ökologischen Nachhaltigkeit gleichermaßen Vorbild. 

In der Vergangenheit waren die Entscheidungen der Jury des Pritzker-Preises nicht immer glücklich. Einige Preisträger sind heute nicht mehr salonfähig. Doch offensichtlich haben sich die Bewertungskriterien der Hyatt Foundation, die die Auszeichnung vergibt, inzwischen verschoben. Und so gibt es an der Wahl der Juror*innen um Alejandro Aravena nichts zu kritisieren, ganz im Gegenteil: Die Ehrung für Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal kommt im zweiten Jahr der Pandemie und in einem Moment, da soziale und ökologische Probleme weltweit unübersehbar geworden sind, genau zur rechten Zeit. Sie ist nicht nur der verdiente Lohn für ein großartiges Team, sondern auch ein Fanal für die Szene. Hoffen wir, dass sich künftig noch mehr Architekt*innen vom Beispiel der beiden ermutigen lassen – und vergessen wir dabei nicht, dass auch kleine Erfolge im Sinne ihrer Wertehaltung bereits große Anstrengungen wert sind und einen Unterschied machen.

Wann und in welcher Form die Preisverleihung stattfinden wird, ist aufgrund der Pandemie noch unklar. Nähere Informationen sollen im Sommer folgen. Bereits die letzte Ehrung fand als Online-Veranstaltung statt.

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