Matthias Warkus: „Wir brauchen bestimmte Kriterien für die Bewertung von Gebäuden, jenseits von schön oder hässlich.“

Katinka Corts
24. novembre 2021
Foto: Tobias Höller
Matthias, als Philosoph kommst du aus einer ganz anderen Richtung als diejenigen, die im Vorlesungssaal vor dir sitzen. Wie holst du die Studierenden ab und knüpfst bei ihren Bereichen – Visuelle Kommunikation, Baumanagement, Urbanistik – an?

Vor ein paar Jahren haben mein Kollege Michael Siegel und ich in Marburg Lehrveranstaltungen zu Philosophie und Science-Fiction durchgeführt. Dabei haben wir jeweils einen kurzen Theorietext und eine Geschichte, einen Roman oder einen Film zusammen behandelt. Das System ließ sich einfach auf Philosophie und Architektur übertragen. Wir sprechen über Gebäude, die die Stadt prägen, und lesen einen architekturphilosophischen Text. Das funktioniert mit Nicht-Philosophen, die nicht so viele Vorkenntnisse haben, uneingeschränkt genauso gut wie mit Philosophiestudenten. Die Frage ist dann immer, wie man den Theorietext auf das konkrete Gebäude beziehen kann. In Weimar ist aus diesen Arbeiten sogar ein architekturphilosophischer Stadtrundgang entstanden. 

Gib uns doch bitte ein paar Beispiele zu den Projekten, die ihr besprochen habt, und zu Texten, die ihr gelesen habt.

In Weimar haben wir zum Beispiel über das Herderzentrum gesprochen. Hier wurde ein neueres Kirchgemeindehaus in die historische Umgebung und an ein bestehendes Gebäude gefügt. Dazu lasen wir den Text „Die ästhetische Wertschätzung alltäglicher Architektur“ von Allen CarlsonEr eröffnet die Theorie, dass sich in unspektakulärem architektonischen Kontext wie zum Beispiel Wohnvierteln evolutionär ein architektonisches und städtebauliches Ensemble entwickelt, das eine Art ökologisch angepasste Umgebung für die Bewohner bildet. Ein anderes Mal sprachen wir über die Mensa im Park, die ein Denkmal der Ostmoderne ist. Dazu verhandelten wir den Text „Reflexionen über die Architektur“ von Robert Stecker und überlegten, wann ein Gebäude ein Kunstwerk ist – und wann nicht.

Herderzentrum Weimar (Foto: Matthias Warkus)
Architekturphilosophie kommt nicht aus dem Fach Architektur selber, sondern von außen. Sie ist eine philosophische Auseinandersetzung mit der Architektur und die Texte, die ihr gelesen habt, stammen von Philosophen, die sich auf Architektur spezialisiert haben. Inwieweit ist das praxisrelevant für die Architektur?

Das philosophische Nachdenken über Architektur ist nicht direkt praxisorientiert. Wie bei Philosophen, die als Literaturästhetiker über Schriften nachdenken, aber Romanautoren keine Anweisungen geben, wie sie schreiben sollten, ist es auch in der Architekturphilosophie. Die Texte haben jedoch eine indirekte Wirkung, denn sie regen zum Diskurs an. Vor 70 Jahren hielt Martin Heidegger in Darmstadt den wichtigen Vortrag „Bauen, Wohnen, Denken“. Er erörterte, wie Architektur nach seiner Meinung jenseits von Komfort und Annehmlichkeit eine sinnstiftende Ordnung schaffen kann. Das hatte eine enorme Sprengkraft, denn die Vorstellung, dass das Bauen dazu beiträgt, dass Menschen eine Orientierung in ihrem Leben haben, war eine ziemlich starke Nummer.

Ist es denn per se falsch, wenn Architektur Menschen eine Orientierung gibt? Oder geht es dir eher um Heideggers Meinung dazu, wie sehr die gebaute Umgebung den Menschen steuern soll?

Der Heidegger-Vortrag steht für eine ganze Linie des Denkens. Heidegger führte als Beispiel das Bauernhaus im Schwarzwald an, das sich nicht nur außen an seine Umgebung, sondern auch innen an seine Bewohner anpasst – beziehungsweise alles vorgibt. Es gibt einen Ort zum Schlafen, einen zum Arbeiten, das Haus ist so angelegt, dass man von vornherein weiß, wo später einmal der Sarg aufgebahrt wird, wenn man tot ist. Er forderte nicht, zu einer solchen Art des Wohnens zurückzukehren, aber wollte, dass die entwurzelten Menschen (und das sagte er 1951!) eine ihrer eigenen Zeit adäquate Art des Wohnens finden, die ihnen Ordnung und Einbettung verschafft.

Anhand eines Kita-Neubaus haben wir das auch in Weimar diskutiert. Im Neubau haben die Kinder die Möglichkeit, auf Schleichwegen das Haus zu erkunden, es gibt Geheimgänge und einen eigenen Raum mit Requisiten für Theaterspiel. Was diese Kita als Erfahrungsraum transportiert, ist eigentlich ein Ideal von Liberalität. Doch die Frage stellt sich: Ist das authentisch oder eine Illusion? Schließlich bedient so ein Kindergarten in einer neuen Wohngegend in Weimar auch eine bestimmte Klientel.

Nun ja, das ist aber oft so. Es muss Projekte geben, die neue Gedanken aufzeigen. Wird über die Bauten gesprochen und der Diskurs angeregt, ist doch schon viel gewonnen.

Das stimmt, und die Philosophie bietet die Möglichkeit, mit neuen Begriffen über das, was man schon kennt, nachzudenken. Wir fragen uns, inwieweit Architektur Erfahrungen ermöglichen kann und soll. Von den Studierenden aus Jena habe ich die Rückmeldung erhalten, dass ihnen die intensive Beschäftigung mit der gebauten Umgebung einen neuen Zugang zu den Gebäuden in der Stadt ermöglicht habe – und dass sie auch eine andere Schönheitswahrnehmung bekommen hätten.

Zentraler Grünzug in Jena-Winzerla (Foto: Matthias Warkus)
In der Realität und in der Öffentlichkeit spielt oft eher Neid ein Thema. Als es darum ging, die Kultur des Willkommenheißens baulich umzusetzen und Flüchtlingsunterkünfte zu bauen, die nicht nur aus Containern und Stacheldrahtzaun bestehen, war das stark zu spüren. Leute haben nicht gesehen, was die Bauten für alle Bewohner*innen und Anwohner*innen Gutes tun können, sondern oft nur verglichen mit ihrer eigenen (Wohn)Situation.

Ich wohne in Jena in einer großen Plattenbausiedlung. Mir wird dort immer wieder klar, wie subjektiv und wie erfahrungsbezogen die Wahrnehmung der gebauten Umgebung ist. Ich mag die Anlage mit der sehr durchdachten Anordnung der Bauten und der Grünräume. Doch auf Twitter habe ich einmal gelesen: „Die Begeisterung für die Platte haben immer nur die Wessis“. Ästhetisch aufgeladene Neiddiskurse, die du skizziert hast, kenne ich aus Marburg, sehe sie aber auch hier in Jena. In sozialen Medien wird über Bauvorhaben oft sehr neidvoll diskutiert, aufgeladen von Konkurrenzvorstellungen. 

Diejenigen, die sich als die zu kurz gekommenen Einheimischen sehen, die immer untergebuttert werden zugunsten der Studenten oder hochqualifizierten Zugezogenen, die haben häufig einen sehr negativen, abwertenden Blick auf die Stadtentwicklung. Viele Menschen sind tendenziell unfähig, neu Gebautes irgendwie gut zu finden – einfach, weil das in ihrer sozialen Position so angelegt ist. In ihren Augen wird das, was schön ist – der Bestand –, kaputt gemacht. Und das ist kein Fortschritt für sie. 

Der Gedanke, wer wie schön wohnen „darf“, hat damit zu tun, wie wir öffentlich über Schönheit und den Statuswert von Architektur verhandeln. Zugleich öffnen sich hier soziale und Statusfragen – und das kann innerarchitektonisch nicht gelöst werden. Wenn wir uns einerseits darauf einigen, dass Flüchtlingsunterkünfte schön im Sinne von „willkommenheißend“ sein sollen, und zugleich sitzen „Einheimische“ seit vielen Jahren in unsanierten Blöcken, die nach jedem Kriterium nicht so schön sind, dann kann ich das innerhalb der Architektur nicht lösen.

Für manche scheinen bauliche, aber auch politische Entscheidungen eine Überforderung darzustellen. Wer sich nicht abgeholt oder gefragt fühlt, wen die äußeren Umstände immer überwältigen, kann Neues nicht interessant und spannend finden, sondern bekommt Angst und blockiert.

Ich meine, dass gerade die ästhetische Wahrnehmung etwas ist, worüber man viel reden kann. Wir brauchen bestimmte Kriterien für die Bewertung von Gebäuden, auch jenseits von schön oder hässlich. Viele, selbst hochgebildete Menschen haben sehr konservative Vorstellungen zu Architekturästhetik, beharren aber darauf, dass diese völlig objektiv seien. Ein Beispiel ist der allgegenwärtige Gründerzeitfanatismus.

Der konservative Schriftsteller Martin Mosebach sagte 2010, dass ja eigentlich kein Mensch, der es sich aussuchen kann, anders wohnen wolle als in einer Gründerzeitwohnung. Viele betrachten dies als die objektiv beste und schönste Art zu leben – und zu bauen. Und viele Leute meinen, aus dem Bauchgefühl heraus objektiv Urteile über Architektur fällen zu können, die sie sich bei anderen Themen, der Bildenden Kunst zum Beispiel, niemals erlauben würden. Architektur nimmt als Gebrauchskunst eine Sonderstellung ein.

Turmdetail Christi Auferstehung in Köln-Lindenthal, Architekt Gottfried Böhm (Foto: Matthias Warkus)
Zu der Idealisierung der Gründerzeitbauten kommt erschwerend hinzu, dass neuere Bauformen – sei es aus der Moderne, aus dem Brutalismus oder der sozialistischen Moderne – einfach nicht lesbar genug sind für Laien. Sichtbeton ist da wohl eines der klassischen Beispiele: Schnell wird er generell abgelehnt, statt zu beurteilen, ob er gut oder schlecht gemacht ist.

Gewisse Ausdrücke wie „Beton“ werden völlig ideologisiert gebraucht. Beton wird abgewertet als „modernistisch“, „brutalistisch“ und „seelenlos“. Darin sieht man auch die Wahrnehmungsverschiebung. Es wird genauso oft behauptet, die Umgebung von Neubauten sei kahl und ohne Grün – dabei gibt es eigentlich kein Bauvorhaben ohne Grünplanung, man vergisst auch, dass die großen Bäume in der eigenen Umgebung auch erst einmal 30 Jahre gewachsen sind. Da trifft das Jetzt auf alte Ideologien, die in Deutschland Tradition haben: zum Beispiel die Vorstellung, dass es eine warme, organische, beseelte Architektur gibt mit einer Verwurzelung einerseits und andererseits eine kalte, internationalistische, kapitalistische und abgehobene Architektur ohne Seele. Die Architektur hat da ein Vermittlungsproblem.

Wir erleben in Deutschland auch, gerade in sozialen Medien, eine sehr undifferenzierte Diskussion um Mietsteigerungen und private Bauinvestitionen. Der Unterschied, ob jetzt ein internationaler Equity Funds Projekte erstellt oder ob es sich um eine übliche, von der Volksbank finanzierte Mischimmobilie handelt, wird gar nicht mehr gemacht. Die Haltung scheint zu sein: Solange wir riskieren, dass mit einem Gebäude irgendjemand auch nur einen Cent Geld verdient, sollte es besser nicht gebaut werden. In einer Marktwirtschaft ist es aber wahrscheinlich nicht zu vermeiden, dass mit Gebäuden auch gewirtschaftet wird.  Franziska Giffey hat sich im Zuge der ganzen Enteignungsdiskussion in Berlin geäußert und kritisiert, dass man mit den Entschädigungszahlungen in Höhe von geschätzten 30 Milliarden Euro dann noch keine einzige Wohnung mehr gebaut hätte. Dafür erntete sie nur Spott – als ob das kein ernstzunehmendes Argument wäre! Das Problem sitzt schon in den ideologischen Annahmen in dieser Diskussionskultur, in der das alles abläuft.

Aber wie soll denn Bauwissen so vermittelt werden, dass die breite Bevölkerung mündiger wird? Du publizierst in Philosophiezeitschriften und sprichst mit Studierenden, die ja grundsätzlich schon einmal lernbereit und interessiert sind. Müsste man mit einer solchen Wahrnehmungsschulung nicht raus an die Leute gehen, Menschen in Tageszeitungen abholen, runtergebrochen auf ein Minimum, und dort die Sensibilisierung auf die gebaute Umwelt mit philosophischem Hintergrund langsam schärfen? Und das Ganze auf eine Art, mit der sich niemand angegriffen fühlt oder in seinem Werteverständnis und -bild verletzt? Und zwar so, dass ein Interesse am Verstehen geweckt wird?

Ganz klar. In Deutschland sind wir sehr hüftsteif mit der Wissenschaftskommunikation – oft findet sie nur in hauseigenen Blogs statt. Ich habe auf der Website Krautreporter eine große Serie über Architektur gemacht. Das ist sozusagen ein Versuch in diese Richtung. Ich habe außerdem eine Videoserie, die man bei Steady abonnieren kann, in der ich versuche, auf interessante, aber unpolemische Weise über moderne Architektur zu reden. 

Vielleicht sollte es auch mehr Architektur- oder architekturphilosophische Rundgänge in Städten geben. Architektur und Städtebau sind Themen, von denen die breite Bevölkerung im Verhältnis zu ihrer aktuellen Bedeutung und ihrer Komplexität mit am wenigsten Ahnung hat. Und wie bei vielen Themen, wir haben es jetzt auch während der Pandemie erlebt, greift dennoch das deutsche 80-Millionen-Bundestrainer-Phänomen, dass man wenig von etwas versteht, aber trotzdem genau weiß, was alles falsch daran ist. Es braucht mehr breite Bildung und eine weniger polemische Presse, denn sonst werden Menschen darauf trainiert, alles Neue unkritisch als schlecht zu bewerten. Online-Fachmedien können da einen anderen Zugang zur Architektur schaffen, doch auch diese erreichen nur einen Teil der Bevölkerung und es bleibt eine große Lücke in der Mitte.

Mittlerweile fängt vielerorts das „Sehenlernen“ bereits in der Schule an: Bauen und Stadtplanung findet als Thema im Unterricht statt, auch über das direkte Erleben. Mal werden Siedlungen geplant, mal Diskussionen über Standorte von Häusern geführt. Kinder sollen ihre Meinung entwickeln und dann aber auch argumentieren können. Es geht darum, generell erst einmal die Diskussion zu eröffnen und diese Kompetenz früh zu schulen.

Es steigert enorm die Lebensqualität, wenn man etwa mit seiner Umgebung anfangen kann. Wird damit in jungen Jahren begonnen, erleben Kinder bereits ihr Umfeld ganz anders und werden kompetenter. Wenn man ein bisschen davon versteht, was um einen herum passiert und wieso, hat man viel mehr von seiner Umgebung. Das gilt für Häuser genauso wie für Bäume. Alle Menschen verstehen, dass es die Lebensqualität steigert, wenn man verschiedene Bäume und Vögel unterscheiden kann. Es wäre toll, wenn sich das auch in Bezug auf das Bauen verbreitet.

Dr. Matthias Warkus hat Philosophie studiert und sich in seiner Dissertation auf Zeichentheorie spezialisiert. In Jena, Weimar und Halle an der Saale hielt er Lehrveranstaltungen, in der sich die Studierenden besonders mit der ästhetischen Wahrnehmung der gebauten Umgebung auseinandergesetzt haben.

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