Räume, die zur Aneignung anregen

11. January 2023
Modell (Foto: Beer Bembé Dellinger)
Ein identitätsstiftendes Konzept und eine hohe gestalterische Qualität hinsichtlich der Architektur und des Wohnens waren in der Auslobung gefragt. Welche Ausgangssituation haben Sie vorgefunden?

Das Wettbewerbsgebiet befindet sich zwischen der Rümelin- und Rosensteinstraße in Stuttgart. Diese Gegend ist geprägt durch das Stuttgarter „Bahnerdörfle“, ein ensemblegeschütztes Quartier, das Wohnraum für Angestellte von Post und Bahn schaffen sollte und durch seine Teilung in elf Baublöcken geprägt ist. Der ältere und größere Teil dieser Struktur wurde als offene Blöcke realisiert, wodurch eine kleinteilige Körnung mit gleichzeitig urbanem Charakter des Straßenraums entstand, der diesen Teil der Stadt prägt. Auf der anderen Seite grenzt das Gebiet an den Gleisbogenpark an, der sich zu einem wichtigen öffentlichen Freiraum entwickeln wird. Hier entstanden bereits in den letzten Jahren neue Bebauungen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Außerdem grenzt ein Teil des Grundstücks an eine im Moment entstehende Bebauung. Wir waren aufgefordert auch hierzu eine Antwort zu finden.

Schwarzplan (Zeichnung: Beer Bembé Dellinger)
Welches sind die Kerngedanken Ihres Entwurfs?

Im ersten Schritt haben wir uns entschieden, im südlichen Teil des Grundstücks an unsere Nachbarbebauung anzubinden und den Block zu schließen. Den nördlichen Teil besetzen wir sinnfällig mit einem Solitär. Des Weiteren bestimmt der Kontext unseren Entwurf. Wir greifen die bestehende Körnung des Quartiers auf und versuchen mittels Vor- und Rückversetzen und durch eine differenzierte Höhenentwicklung einen adäquaten Übergang zwischen den sehr gegensätzlichen Strukturen vor Ort zu schaffen und das benachbarte Ensemble auf diese Weise zu respektieren und zu interpretieren. Analog zum Kontext wird der Straßenraum und die Baumasse so gegliedert und gleichzeitig finden wir eine Sprache, die die neu entstehende Bebauung als zusammenhängenden Stadtbaustein erklärt.  Ein einmaliges, deutliches Rückversetzen erlaubt an Stelle einer neuen Durchwegung des Grundstücks das Entstehen eines kleinen Quartiersplatzes.

Lageplan (Zeichnung: Beer Bembé Dellinger)
Schnitt (Zeichnung: Beer Bembé Dellinger)
Schnitt (Zeichnung: Beer Bembé Dellinger)
Was wird die Qualität des neuen Quartiers ausmachen?

Den urbanen Charakter und die räumliche Qualität, welche der neue Baukörper schafft, sehen wir als Mehrwert, sowohl für den öffentlichen als auch den privaten Raum. Für die Bewohner entsteht ein großer, zusammenhängender Hof und eine begehbare Dachlandschaft mit Raum für Erholung, gemeinsamen Gärten und Treffpunkte. Diese soll außerdem überwanderbar und über ein Treppenhaus an den Hofraum angebunden sein. Die entstehende Mischung zwischen Wohnen, Ladenflächen, einem Kindergarten und Büroräumen ist für uns die Grundlage für ein vielfältiges und zeitgemäßes Quartier. 

Blick über die Rümelinstraße (Visualisierung: Simon Schmitt)
Welches architektonische Thema war Ihnen besonders wichtig?

Besonders der Umgang mit dem historischen Ensemble war uns ein großes Anliegen. Uns hat interessiert, wo dessen Qualität liegt und inwiefern wir Erkenntnisse hieraus auf unser Projekt anwenden und dabei etwas Neues entstehen lassen können. Wir wollten ein zeitgemäßes, lebendiges Wohnumfeld entwerfen, das von Heterogenität statt Homogenität zeugt, dessen Räume zur Aneignung anregen und in Zeiten von Homeoffice einen Mikrokosmos bieten, der mehr als reiner Wohnraum ist. Beitragen werden hierzu auch die Durchwegungen durch das Quartier, der große Hof, die Wege über die Dächer und die dort entstehenden unterschiedlichen Grünräume.

Blick in den Hof (Visualisierung: Simon Schmitt)
Welche Materialstrategie schlagen Sie vor?

Die eben benannte Vielfalt soll sich auch in der Materialität der einzelnen Baukörper zeigen. Wir wollen hier jeden Baukörper einzeln behandeln, wie es auch unser historischer Nachbar vormacht.

Dessen Fassaden sind von einem zweifarbigen Backsteinmauerwerk geprägt, das zur Belebung des Erscheinungsbildes beiträgt.  Zudem sorgen Vor- und Rücksprünge für eine kleinteilige Lesbarkeit der Blockrandbebauung. Analog hierzu schlagen wir ebenfalls ein heterogenes und kleinteiliges Fassadenbild vor, das den Baukörper parzelliert lesbar macht. Während die Setzung von Öffnungen und Loggien gleichbleibt und somit für eine Grundordnung sorgt, wird der Baukörper ebenfalls durch Vor- und Rücksprünge gegliedert. Dies wird durch eine differenzierte Behandlung der Fassadenflächen zusätzlich gestärkt. Jene folgen nicht dogmatisch einer Oberfläche und Materialität, sondern werden lediglich über eine ähnliche Farbgebung zusammengehalten, wie es auch bereits im Bestand geschieht und welche sich an diesem orientiert. Um die von uns beschriebene Heterogenität zu schaffen, können wir uns hier den Einsatz von verschiedenen Putzstrukturen in Kombination mit Klinkerfassaden vorstellen. Im Hof werden Balkon- oder Erschließungsstrukturen addiert, die der Bebauung im Hof einen eigenen und zur Straße differenzierten Charakter geben.

Detail (Zeichnung: Beer Bembé Dellinger)
Gibt es schon einen geplanten Fertigstellungstermin?

Ein Fertigstellungstermin steht noch nicht fest. Die ersten Schritte für ein erfolgreiches Projekt werden aber jetzt schon begangen.

Modell (Foto: Beer Bembé Dellinger)
Rümelinstraße 32 + 38 in Stuttgart
Einladungswettbewerb
 
Auslobung: Isaria München Projektentwicklungs GmbH
Betreuung: kohler grohe architekten, Stuttgart
 
Jury
Prof. Jörg Aldinger, Freier Architekt BDA, Stuttgart, Vors. | Thorsten Donn, Leiter Amt für Stadtplanung und Wohnen, LHS | Gabriele D ́Inka, Freie Architektin BDA, Fellbach | Prof. Dr. Ulrike Fischer, Architektin BDA, Karlsruhe | Prof. Dr.-Ing. Annette Rudolph-Cleff, Architektin, Mannheim/ Darmstadt | David Christmann, Geschäftsführer Isaria München | Projektentwicklungs GmbH, München | Michael Glück, Freier Landschaftsarchitekt, Stuttgart | Prof. Peter Schlaier, Freier Architekt BDA, Stuttgart | Mechthild von Puttkamer, Freie Landschaftsarchitektin BDLA, Starnberg | Petra Rühle, Stadträtin, Stadt Stuttgart | Stefan Conzelmann, Stadtrat, Stadt Stuttgart | Johanna Tiarks, Stadträtin, Stadt Stuttgart | Armin Serwani, Stadtrat, Stadt Stuttgart | Peter Kadereit, Steuerung Projektentwicklung, Deutsche Wohnen SE | Matthias Rieker, Isaria München Projektentwicklungs GmbH, München | Andreas Barth,Geschäftsführer, BUWOG Bauträger GmbH, Berlin | André Tarasov, Isaria München Projektentwicklungs GmbH, Stuttgart
 
1. Preis
Beer Bembé Dellinger Architekten und Stadtplaner GmbH, München | Prof. Anne Beer, Felix Bembé, Sebastian Dellinger
Mitarbeit: Riccardo Stellato, Jule Höllige, Michael Drexler
Renderings: Simon Schmitt
 
2. Preis
schneider+schumacher, Frankfurt am Main | Gordan Dubokovic
Mitarbeit: Mohamed Yasser Elsarif, Mohamad Alkhatib
Renderings: moka, Hamburg
Modellbau: gbm, Darmstadt
 
3. Preis
bogevischs buero architekten & stadtplaner GmbH, München | Rainer Hofmann
Mitarbeit: Magdalena Müller, Laura Ingermann

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