Stadt verstehen lernen

Katinka Corts
2. October 2024
Einsatz für mehr Baubildung in jungen Jahren: links die Fortnite-Insel »Re:Imagine London«, rechts das »Schulbuch Baukultur« (© Epic Games, Bundesstiftung Baukultur)

An den großen Schwarzplan in meinem Zimmer erinnere ich mich noch heute: Darauf sollten wir alle Wege einzeichnen, die wir in einem vorgegebenen Zeitraum zurücklegen. Dünne Striche standen für einzelne Wege, breite schwarze Tuschebänder für tägliche Routen. Bald sahen wir, wie wir den Stadtraum nutzten – und auch, welche Teile der Stadt uns überhaupt nicht zu betreffen schienen. So interessant diese Auseinandersetzung mit unserer Nutzung der Stadträume war – sie fand erst im ersten Semester meines Architekturstudiums statt. Zu einem Zeitpunkt also, als ich längst selber entschieden hatte, mich für die gebaute Umgebung zu interessieren. 

Heute wird die Allgemeinheit viel mehr mit Bauthemen konfrontiert, wenn Beton als »Klimakiller«, Zementwerke als »CO2-Schleudern« und das Bauen generell in die Nachrichten gelangen. Viel wichtiger wäre jedoch, zu diskutieren, was gute Städte sind, wie bessere Gebäude entstehen können und welche Wege dafür beschritten werden müssen. Und: Das Bewusstsein für die einen umgebende gebaute Welt sollte früh geschärft werden, damit – genauso, wie es die Grundfächer in der Schule tun – Menschen darauf aufbauen und Verantwortung übernehmen können.  

Seit einigen Jahren gibt es deshalb Partizipationsangebote, in denen bereits Kinder und Jugendliche mit neuen Sichtweisen auf ihre gebaute Umwelt konfrontiert werden. Wer verstehen kann, wie Städte »funktionieren«, welche demokratischen Prozesse dafür notwendig sind und warum nicht jeder alles so machen kann, wie er oder sie es für richtig hält, ohne nach links oder rechts zu schauen, wird zur Spezialistin und kann sich einbringen – so die Theorie. Schwierig bleibt, derlei Angebote in die Breite zu streuen. Anbieter für Klassenworkshops sind meist relativ lokal aktiv, engagierte Vereine erreichen keine nationale Reichweite.

Blick ins »Schulbuch Baukultur« (© Bundesstiftung Baukultur)
»Erstellt in Gruppen ein Schaubild: Wer ist für bestimmte öffentliche Räume verantwortlich? Recherchiert im Internet. Wer nutzt sie? Wer pflegt sie? Wer darf in all diesen Prozessen mitreden? Ergänzt entsprechend das Schaubild und tauscht euch darüber aus.«

Ein Auftrag aus dem »Schulbuch Baukultur«

© Bundesstiftung Baukultur
Ein Schulbuch zur Baukultur für alle

Mit der Bundesstiftung Baukultur hat sich über die vergangenen Jahre eine übergeordnete und reichweitenstarke Institution des Themas angenommen. Sie hat ein Lehrbuch herausgegeben, das in ganzen Klassensätzen in die Schulzimmer gelangen und zu einem persönlichen Arbeits- und Erfahrungsbuch für Kinder und Jugendliche werden kann. Der Ansatz des Buches ist absolut handlungsorientiert: Auf fast allen Seiten begegnen den Lesenden Teilaufgaben oder Gedankenspiele, die zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Umfeld einladen. Ist es zunächst nur das eigene Zimmer und zum Beispiel die Frage, welche Projektbeteiligten bei einer Neueinrichtung beteiligt wären, gelangt man bald zu ganzen Städtebau-Szenarien. So wird am Beispiel einer fiktiven Stadt mit Bewohnerinnen und Bewohnern aller Generationen durchgearbeitet, welche Bedürfnisse mit welchen Möglichkeiten der Teilhabe abgedeckt werden müssen. Themen wie Wettbewerb, Biodiversität, Terminplanung und Unterhalt von Stadträumen werden angeschnitten und im weiteren Verlauf des Buches eingehender erklärt. So gelingt es, einen Überblick über die Gesamtheit der Planungsaspekte zu bekommen, ohne sich zu sehr im Detail zu verlieren. Jugendliche erlangen dabei ein Verständnis dafür, wie sie einerseits bereits selber Teil von Prozessen sind und wie sie andererseits auch künftig Einfluss auf diese nehmen können. 

Beispiele wie der neu erstellte Baakenpark im Osten der Hamburger HafenCity und das großangelegte Stadtsanierungsprojekt Holstenfleet in Kiel bieten zwischen den theoretischen Teilen nachvollziehbare Beispiele. Im Kapitel über die öffentlichen Räume werden auch die städtischen Nutzer und der Verkehr mit dem jeweils beanspruchten Raum vorgestellt sowie die Frage diskutiert, ob nur zeitweise genutzte Räume (im Beispiel Schulhöfe) nicht in den Randzeiten auch anderen als Aufenthaltsort dienen sollten. Das eigene Verhalten, die Belastbarkeit von Orten und die Möglichkeiten der kreativen Aneignung sind spannende Aspekte im Buch, die immer wieder zum Nachdenken und Entwickeln eigener Ideen einladen. 

Inhaltlich habe ich Sie jetzt etwa bis Seite 70 der 188 Seiten starken Publikation mitgenommen. In den zwei folgenden Hauptabschnitten »Stadt und Land« sowie »Neue Umbaukultur« gehen die Autorinnen und Autoren ins Detail, es geht um Stadtentwicklung und Klimaanpassung, den Wert des Bodens und die Gestaltung der Energiewende, Infrastrukturgestaltung und zirkuläres Bauen. Aus der Praxis lernen die Lesenden dabei unter anderem das CRCLR-House in Berlin von LXSY Architekten und die drei Wohnhäuser in Bad Aibling von Florian Nagler Architekten kennen. Trotz dieser thematischen Vielfalt und Dichte bleibt darin das angenehme Gleichgewicht aus Wissensvermittlung und Aktivität, was das Buch enorm lebendig macht. Wie eingangs geschrieben, ist es damit weit mehr als ein Lehrbuch, sondern eher ein Begleiter bei eigenen Erkundungen mit vielen spielerischen Aspekten. 

Die Spieloberfläche von Fortnite (© Epic Games)
»Die Module berücksichtigen die jüngsten Fortschritte in der Bautechnologie und zeigen gleichzeitig einen parametrischen Ansatz für die Umwelt- und Kontextleistung durch typologische Variationen sowie abgestufte und volumetrische Beleuchtung und Materialeffekte.«

Zaha Hadid Architects über Re:Imagine London

Verfügbare Elemente zum Verbauen (© Epic Games)
Gaming-Insel mit Mehrwert

Ebenfalls mit dem Hintergrund, das Bewusstsein für gebauten Raum zu schärfen, ist »Re:Imagine London« auf den Markt gekommen. Dabei geht es nicht um ein Schulbuch, sondern um eine digitale Stadt, in der – vornehmlich Jugendliche – Konzepte von Städtebau und Architektur selber ausprobieren können. Das Setting dazu ist ungewöhnlich: Zaha Hadid Architects (ZHA) haben sich mit Epic Games zusammengetan, die das Spiel Fortnite herausgeben. Wer zu Hause heranwachsende Jugendliche hat, ist jetzt wahrscheinlich schon im Bilde. Für alle anderen: Fortnite ist als Survival-Shooter konzipiert, seit 2017 auf dem Markt und wird weltweit von etwa 650 Millionen Menschen online gespielt. Flüssige Grafiken und zahlreiche Modi, Skins und Tänze (warum es die gibt, habe ich nie verstanden) ziehen junge Menschen in ihren Bann; mit einer In-Game-Währung besteht zudem die Möglichkeit, Fiatgeld im Internet zu verwerten. 

Epic Games geht in Fortnite aber auch andere Wege, entwickelt immer wieder neue Modi und Welten, die auf andere Aspekte fokussieren. »Re:Imagine London« ist eine solche Welt – in Fortnite »Insel« –, auf der ein größerer Teil Londons digital nachgebaut ist. Die Planer von ZHA erklären dazu, dass das heute gebaute, dichte London kaum mehr Raum für weitere Entwicklungen lässt. Die Flächen wurden über die Jahrhunderte immer dichter besetzt, gebaut werden muss entsprechend zahlreichen Vorschriften – mit nicht immer (räumlich) nachhaltigen Ergebnissen für die Bevölkerung. Das digitale Projekt setzt die laufenden Arbeiten der Computation and Design Group (ZHACODE) von ZHA in den Bereichen Stadtplanung, Plattformdesign, User Experience Design und »digitale Zwillinge« fort. 

Im digitalen London sind nun mehrere Baufelder freigeräumt worden, auf denen die Spielerinnen und Spieler Wohn- und Bürogebäude, Strukturen und Parkanlagen bauen können. Dies geschieht nicht mit den Wandelementen, die in Fortnite üblich sind (mit denen die Spielenden Schutzräume bauen), sondern mit Elementen, die ZHA entwickelt haben und zur Verfügung stellen. Es ist jedoch kein wirkliches Element-Bauen, sondern vielmehr ein Ausweisen von Flächen: Wird ein Feld mit »Wohnen« besetzt, ist es ein nur wenige Quadratmeter großes Objekt in erwartbarer Hadid-Optik. Belegt man jedoch mehrere Felder nebeneinander mit »Wohnen«, bilden sich automatisch Häuser mit Fassaden und Etagen, die sich selbst möblieren. 

Punkte bekommt, wer zum Beispiel Grün neben die Bauten setzt und Wohngebiete mit verbindenden Wegen durchzieht. Das ist reizvoll, weil es die Spielenden auf der Gaming-Ebene dazu antreibt, den ganzen Stadtraum zu denken und nicht nur das einzelne Gebäude. So entsteht ein digitales Miteinander, inklusive Blick vor die eigene Haustür, den man bei sehr vielen realen Bau- und Entwicklungsprojekten regelmäßig vermisst. »Re:Imagine London« schafft jedenfalls ein Szenario, in dem sich viele Jugendliche heutzutage wohlfühlen und gut bewegen können. Womöglich ist also auch das ein Ansatz, Bauen als beeinflussende Größe in einer Stadt zu erfahren.

Zwei interessante Ansätze

Soll ich mich entscheiden, wofür mein Herz eher schlägt, ist die Antwort klar: Ich würde das Buch wählen. Grafik und Umsetzung von »Re:Imagine London« sind durchaus gelungen und das spielerische Konzept weiß nachweislich Jugendliche abzuholen. Die können aber auch Controller mit um die 20 Tasten bedienen, während ich mehr Freude an Stift und Papier habe. Das Buch lädt zu gemeinsamen Erfahrungen in der eigenen Stadt ein, bringt Menschen wirklich zusammen und feiert die Vielfalt. 

Genau diese Vielfalt fehlt jedoch im Online-Spiel: Mit den zahlreichen Elementen von ZHA steht in »Re:Imagine London« zwar ein neuer Bauteilkatalog zur Verfügung, dennoch würden wir in der Realität nicht gern so große Teile Londons vollständig mit der Signature-Architektur eines einzelnen Büros überzogen sehen. Vielleicht ist hier auch ein Spieleentwickler wie Epic Games gefragt, noch viel mehr Büros zu diesem Städtebau-Experiment einzuladen. Damit könnte dann tatsächlich eine digitale Plattform entstehen, auf der junge Menschen intuitiv Städtebau entwickeln. 

Doch ob Buch oder Game: Wenn das Ziel ist, junge Menschen über den Tellerrand blicken zu lassen, haben beide Systeme Vorteile, die für die jeweiligen Zielgruppen und Alter optimal sind. Und vielleicht gelangen ja auch Inspirationen aus dem Buch, das ein Jugendlicher in der Schule liest, dann nachmittags in die digitale Umsetzung – und werden so international unter den Millionen von Spielerinnen und Spielern verbreitet.

 

Um das Unterrichtsmaterial kostenfrei in die Schulen zu bringen und somit möglichst viele Schülerinnen und Schüler zu erreichen, ruft die Bundesstiftung Baukultur zu einer Spendenaktion auf. Sie möchte damit den Seriendruck von Klassensätzen finanzieren. Mehr erfahren

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