Interimsbau für die Kultur

Katinka Corts
20. Mai 2021
Innenansicht der künftigen Isarphilharmonie (Visualisierung: gmp Architekten)

Katinka Corts: Lassen Sie uns zu Beginn etwas in die Projektvorgeschichte einsteigen. In Vorbereitung der großen Generalsanierung des Gasteig gab es ein Vergabeverfahren für das Interimsquartier, an dem sich Architekten als Generalplaner beteiligen konnten. Wie lief das damals ab?

Stephan Schütz: Es gab zwei Vergabeverfahren, das erste Los bezog sich auf die Generalplanung eines Konzertsaals sowie die Sanierung von Halle E als dessen Foyer mit Teilen der Bibliothek und der Volkshochschule, die heute auch im Gasteig enthalten sind. Das zweite Los wurde zeitversetzt dazu vergeben. Hierbei ging es darum, zusätzliche Module für Verwaltung, Musikhochschule und weitere Funktionen auf dem Sendlinger Werksgelände zu schaffen. Das erste Los haben wir mit dem Konzept gewonnen, etwas möglichst Einfaches und Standardisiertes zu errichten, das alle technischen und akustischen Anforderungen erfüllt. In der Bewerbung und in den ersten Gesprächen mit der Bauherrschaft haben wir vorgeschlagen, uns zunächst auf den Konzertsaal zu konzentrieren, damit dieser die hohen Erwartungen des Münchner Publikums erfüllt und internationalen Standards genügt. Alles andere galt es, hintenanzustellen und unterzuordnen.

Forum-Fläche vor Halle E (Visualisierung: gmp Architekten)

Katinka Corts: Wie kam es dann zur Zusammenarbeit mit Nüssli?

Stephan Schütz: Erfahrung mit Nüssli hatte gmp schon aus einem anderen Projekt – wir haben gemeinsam die Arena für den Eurovision Song Contest 2012 geplant und gebaut. Das ging in atemberaubendem Tempo so wie auch jetzt wieder. Wir waren deshalb froh, für das Gasteig-Projekt mit Nüssli einen Partner zu haben, auf den wir uns verlassen können und bei dem wir sicher sind, dass er die Sache und die Terminpläne ernst nimmt.

Roland Gebhardt: Es hat uns natürlich sehr gefreut, dass wir die Ausschreibung mit unserem Umsetzungskonzept gewinnen konnten. Der Gasteig HP8 ist eine Größe, die auch für uns eine Herausforderung darstellt. Zum Vergleich: Die zehn Länderpavillons, die wir in Dubai für die Weltausstellung realisieren, sind im Auftragsvolumen vergleichbar, bestehen jedoch aus Einzelprojekten mit unterschiedlichen Kunden. Hier haben wir eine einzige Bauherrschaft und ein sehr umfassendes Projekt mit mehreren Teilprojekten und das alles auf einem sehr engen Areal. Dass bei diesem Projekt die Akustik absolut im Mittelpunkt steht, war uns von Anfang an klar. Das betrifft sowohl den Schallschutz nach außen gegenüber den Anwohnern und in Richtung Park als auch die Raumakustik im Inneren der Philharmonie. Mit Yasuhisa Toyota von Nagata Acoustics – die auch für die Akustik in der Elbphilharmonie zuständig waren – haben wir absolute Profis zur Seite, die uns technisch geführt haben. 
Tatsächlich war uns jedoch der enorme Umfang der Akustik zu Beginn nicht ganz bewusst, denn das Projekt ist weitaus mehr als nur eine „Hülle mit Konzertbestuhlung“. Es enthält eine enorm komplexe Haustechnik. Das bedeutet, dass jeder Teil des Projektes, welcher eine Lärmquelle sein könnte, wie z. B. die Lüftungsanlage, immer auf die Akustik abgestimmt werden muss – eine technische Meisterleistung.

Außenansicht der Isarphilharmonie von der Schäftlarnstraße (Visualisierung: gmp Architekten)

Katinka Corts: Kommen wir noch mal zurück auf das grundlegende Projekt. Die Philharmonie mussten Sie als Interimsbau und in Zusammenhang mit der denkmalgeschützten Halle E planen und entwickeln. Wie haben Sie sich Ihre Planungsziele, wo die Schwerpunkte gesetzt?

Stephan Schütz: Im Zentrum stand die Aufgabe, einen Konzertsaal für München zu bauen, und zwar einen sehr großen. Meines Wissens handelt es sich um den bislang größten Interimssaal mit immerhin rund 1'900 Frontplätzen. Er soll unter anderem Raum für Sinfoniekonzerte bieten. Denn, wenn der Gasteig-Saal für die Sanierung geschlossen ist, wird dieser Konzertsaal der einzige seiner Art in München sein – und das für Weltklasse-Orchester wie die Münchner Philharmoniker und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Wir bauen für eine musikliebende Stadt, das Publikum hat hohe Ansprüche und soll für den vorgesehenen Zeitraum von fünf Jahren keine Einschränkungen hinnehmen müssen. Ich denke, dass die Fokussierung auf das Essentielle auch spannend ist, weil es jüngeres Publikum einladen wird, in die Isarphilharmonie zu kommen und in einem ganz anderen, wirklich industriellen Rahmen Konzerte zu erleben.

Roland Gebhardt: Per Definition heißt temporär, dass es irgendwann einmal wieder abgebaut wird. Aber temporär zieht in diesem Fall absolut keine Qualitätseinbußen nach sich. Wir haben Anforderungen an Brand- und Schallschutz sowie Akustik, als würden wir für einen Festbau erstellen. Da gibt es keine Unterschiede, denn man kann nicht sagen, wir machen ein bisschen Brandschutz oder ein bisschen Akustik. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man dieses außergewöhnliche Gebäude später für eine andere Nutzung dauerhaft einsetzt. Der Innenausbau ist sehr offen gestaltet, also gibt es keine Bühne im eigentlichen Sinne und keinen Orchestergraben. Das bietet viel Flexibilität für eine mögliche Nachnutzung. 

Stephan Schütz: Ein Interimsbau wie die Isarphilharmonie ist als Versammlungsstätte nach geltender Bauordnung kein „Temporärer Bau” mehr. Dies würde nur für maximal zwei Jahre gelten. Unser Gebäude hat den Notwendigkeiten einer Standzeit von 30 oder 40 Jahren zu genügen. Wir haben uns daher im Sinne der Nachhaltigkeit und Flexibilität für eine größtmögliche Modularität entschieden.
Für den Saal verwenden wir großformatige Holzmodulwände, die 32 cm dick und jeweils zwei Tonnen schwer sind. Ihre raue Oberfläche wird dunkel lasiert. Der Raum ist als „Schuhbox“ geplant, das Orchester wird demnach auf einer Frontbühne platziert. Zunächst hatten wir überlegt, einen „Weinbergsaal“ zu konzipieren, wie ihn z. B. die Dresdner Philharmoniker haben. München hingegen bekommt einen ganz klassischen Saal, der vielfältig genutzt und bespielt werden kann. Nicht nur Konzerte können hier stattfinden, sondern bei entsprechender Bestuhlung auch Konferenzen, Seminare oder Ausstellungen.

Baustelle im Mai 2021 (Foto: Manfred Jahreiss)

Katinka Corts: Sie haben erzählt, dass die Planungen bereits sehr detailliert waren als das Projekt von gmp an Nüssli übergeben wurde. Als Architekten und Generalplaner hatten Sie ja bereits alle Gewerke an Bord, von Elektro über Akustik und Haustechnik bis hin zu Brandschutz. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Stephan Schütz: Es war ein besonderer Moment, als wir unsere Planungsergebnisse an die Firma Nüssli übergeben haben, das stimmt. Der Prozess war sehr gut organisiert. Schaut man sich heute unsere Illustrationen vom Innenraum des Konzertsaals an, also aus der Zeit, bevor Nüssli eingestiegen ist, und vergleicht es mit dem Ergebnis, ist das wirklich absolut deckungsgleich. Es gibt kaum sichtbare Änderungen. 

Roland Gebhardt: Ja, die Anpassungen, die noch notwendig waren, um den Zeitplan einhalten zu können, wurden coronabedingt überwiegend in digitalen Meetings besprochen. Aufgrund der sehr straffen Projektplanung wurde meist nur noch über Ausführungsdetails, wie z. B. Farben diskutiert, denn gravierende Änderungen wären im vorliegenden Zeitplan nicht mehr möglich gewesen. 
Viele der Fachplaner kennen wir schon lange, und unsere Projektleiter im Team sind Experten im Bereich Konzerte und Bühnentechnik. Wir haben das Glück, mit Leuten zu arbeiten, die sich mit dem Metier auskennen und die wissen, wie anspruchsvoll die Anforderungen an die Akustik und die Beleuchtung sein können. Aber das Tempo, das wir vorlegen, ist für manche Fachplaner herausfordernd: sie halten unseren Zeitplan für unglaublich sportlich. Aber genau dafür steht Nüssli – kurze Realisierungszeiten bei hoher Qualität – deshalb bin ich mir sicher, dass wir die Interimsphilharmonie rechtzeitig bis zum Eröffnungskonzert fertigstellen. Und die zusätzlichen Module aus dem Los 2 werden auch bis Ende des Jahres fertig, das ist kein Thema.

Baustelle im Mai 2021 (Foto: Manfred Jahreiss)

Katinka Corts: Wie funktioniert es im Architekturbüro, sich auf einen Interimsbau einzulassen? Kostet das Überwindung, wenn man weiß, man baut womöglich etwas, das kein „ewiges“ Bestehen hat?

Stephan Schütz: Wenn man ein Interim plant, begibt man sich natürlich auf einen pragmatischen Weg und man muss bestimmte Restriktionen hinnehmen können. Wie gesagt: Beim Konzertsaal wollten und konnten wir das nicht, da war die Aufgabe ganz klar. Bei der Gebäudehülle hingegen haben wir technische Anforderungen formuliert, die dann von den Anbietern in deren Systemen umgesetzt wurden. Nüssli hat ein entsprechend unterhaltsarmes industrielles Fassadensystem für die Außenhülle der Philharmonie vorgeschlagen. Sollte das Haus wirklich lange im Stadtbild und als Konzertsaal für München bestehen bleiben, würde ich gerne noch mal darüber nachdenken, die Gebäudehülle dann angemessen aufzuwerten. Das Konzept für die Stahlkonstruktion des Baukörpers erlaubt Modifizierungen, um beispielsweise mehr Tageslicht in die Umgänge um den Saal zu bringen oder Ausblicke in die schöne Parklandschaft jenseits des Großen Stadtbachs zu ermöglichen. 

Katinka Corts: Seitens der Gasteig München GmbH heißt es, dass für die Interimsphilharmonie sowie die verwendeten Modulbauten […] nach der Interimszeit voraussichtlich ein beträchtlicher Wiederverkaufserlös erzielt werden wird – also alle Zeichen auf Abriss. Und im Anschluss an die Interimsnutzung soll die Fläche von den Stadtwerken München entwickelt werden. Im Wesentlichen soll dort Wohnungsbau entstehen.

Stephan Schütz: Zu Beginn hieß es, dass nach der Nutzung durch den Gasteig ein Wohnquartier entstehen könnte. Dementsprechend haben wir für die weiteren Modulbauten auf dem Areal Vorschläge gemacht, wie man aus den Büros, Seminarräumen, der Volkshochschule und Bibliothek später Wohnungen machen könnte. Soweit ich weiß, gibt es keine definitive Zweckbestimmung für die Zeit nach der Sanierung des Gasteigs, der Interimsbau könnte also im Grunde genommen auch dort stehen bleiben. Was bleibt ist unter anderem, dass die denkmalgeschützte Halle E – eine ehemalige Trafohalle – im Zuge unseres Projektes saniert wurde und dann sicherlich für die nächsten 20 oder 30 Jahre für unterschiedliche Nutzungen zur Verfügung steht. Es gibt derzeit eine Diskussion in der Stadt, wie das Gelände weiter genutzt werden soll. 

Katinka Corts: Das Thema Interimsbauten wird uns künftig sicher mehr beschäftigen – viele Spielstätten aus den Nachkriegsjahren haben in der Vergangenheit kleine Notreparaturen erhalten, aber die großen Generalsanierungen von Gebäuden aus den 1950er- und 1960er-Jahren stehen noch aus. 

Stephan Schütz: Ja, in vielen Städten stehen Sanierungen an. Es führt kaum ein Weg daran vorbei neue, temporäre Spielstätten zu bauen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Niemand möchte Einschränkungen im Musikgenuss und in der Aufführungsqualität hinnehmen. Allgemein gilt für Interimsspielstätten: so einfach und robust wie möglich – aber eben auch flexibel, sodass das Interim dann doch auch stehenbleiben kann und weiterentwickelt werden kann. 

Roland Gebhardt: Die Herausforderung bei Sanierungen ist – neben der überholten Haustechnik und den veralteten Brandschutzvorkehrungen – auch, dass solche Projekte fast immer viel länger dauern als geplant, da beispielsweise unvorhergesehen Bauteile mit Asbestbelastung zum Vorschein kommen oder der Bewilligungsprozess sich länger hinzieht. Um dem Publikum weiterhin das gewohnte Kulturprogramm anbieten und mit einer Ersatzspielstätte während der Sanierungszeit auch Einnahmen generieren zu können, sind Interimslösungen genau die richtige Wahl.

Katinka Corts: Wenige Monate bleiben noch bis zur Fertigstellung, Interessierte können sich den Baufortschritt sogar live auf einer Webcam anschauen. Wie schauen Sie in der durch die Corona-Pandemie geprägte Zeit dem Werden des Baus entgegen?

Stephan Schütz: Ich bin gespannt, ob wir dann alle – geimpft – beim Eröffnungskonzert der Philharmonie dabei sein können. Auch für uns ist dieses Projekt besonders, denn wir erleben die Fertigstellung der Philharmonie aus der Ferne – ich selbst war zuletzt im November vor Ort. Die Baustellennähe, die für uns von großer Bedeutung ist, ist derzeit nicht zu haben. Umso wichtiger sind die Kommunikationssysteme und der Prozess.

Roland Gebhardt: Auf der Baustelle hatten wir glücklicherweise nur wenige positive Covid19-Fälle – wir sind sehr restriktiv und konsequent, haben Zugangskontrollen und einen Sicherheitsbeauftragten, der alles beaufsichtigt. Die Baustelle fühlt sich manchmal an wie eine Insel. Ich merke aber auch, dass die Pandemie Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit hat. Das Arbeiten mit FFP2-Masken auf der Baustelle verlangt schon viel von den Arbeitern ab. Auch die Organisation wird beeinflusst. So läuft die Kommunikation teilweise auch innerhalb der Baustelle über Microsoft Teams ab: Wir haben das Baustellenbüro auf drei Stockwerke und in der Länge erweitert, damit nicht mehr als drei Leute in einem Doppelcontainer sitzen. Das macht die Wege länger und das Miteinander fehlt. Trotzdem sind wir im Zeitplan und werden von dem schnellen Baufortschritt täglich motiviert.

Katinka Corts: Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie im Oktober unter einigermaßen normalen Bedingungen eröffnen können. Hoffen wir das Beste, dass es in die richtige Richtung geht!

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