Stadtraumberuhigung und Prägnanz

Winking · Froh Architekten
23. Februar 2022
Blick über den Paul-Nevermann-Platz (Visualisierung: Winking · Froh Architekten / A. Calitz Visual)
In Hamburg-Altona soll mit der am zentral gelegenen Paul-Nevermann-Platz 5 mit einer geplanten Neubebauung eine städtebauliche Neuordnung geschaffen werden. Welche Ausgangssituation haben Sie vorgefunden?

Altona war bis 1867 eine dänische Stadt. Ab diesem Zeitpunkt wurde Altona als eigenständige Stadt unter preußische Herrschaft gestellt und 1938 Teil der Hansestadt Hamburg. Auf dem Wettbewerbsgrundstück gegenüber dem Altonaer Bahnhof wurde 1903 das Luxushotel Kaiserhof (Architekten Lundt + Kallmorgen) eröffnet, welches im zweiten Weltkrieg größtenteils zerstört wurde. Der südliche Teil des Hotels wurde vereinfacht rekonstruiert, der nördliche, dem Bahnhof zugewandte Teil, wurde1963 mit einem 18-geschossigen Hochhaus und einem zweigeschossigen Flachbau der Architekten Hentrich + Petschnigg (Sanierung 2005 durch Winking-Froh Architekten) bebaut. In den 1980er Jahren wurde im mittleren Bereich des Areals ein eingeschossiger Baukörper hinzugefügt. So war mit den Nachkriegsjahren beginnend eine sehr heterogene Bebauung ohne klar definierte Raumkanten gegenüber dem Bahnhof Altona entstanden.

Bestand Kaiserhof (Foto: Winking · Froh Architekten)
Wie kamen Sie zum vorgeschlagenen Baukörper?

Der Entwurf für die Erweiterung des Kaiserhofs schließt an dessen Brandwände an, nimmt die historischen Raumkanten wieder auf und entwickelt im Zusammenspiel mit dem Bestandshochhaus einen eigenständigen Baukörper. Das Bestandshochhaus wird freigestellt, so dass als Zwischenraum eine winkelförmige Passage entsteht, welche sich nach Westen zum neuen Grünzug aufweitet. Die beiden Hauptflügel des Neubaus nehmen die Breite des Innenhofs des ehem. Kaiserhofs auf und sind durch zwei Querspangen miteinander verbunden. So entsteht ein ruhiges nach innen gekehrtes Atrium. Zum Paul-Nevermann-Platz präsentiert sich der Neubau neben der Giebelfassade des Hochhauses mit einem markanten Kopf und bildet den Eingang in die neue Passage. Um die solitäre Stellung des Hochhauses zu stärken endet der neue Kopfbau mit der eingerückten Erdgeschossfassade des Hochhauses. Die Fassadengliederung des neuen Baukörpers reagiert auf den Bestandsbau des ehemaligen Kaiserhofs, indem er dessen klassische Dreiteilung aus Sockel, Mittelteil und Dach aufnimmt. Der Hauptbaukörper schließt mit der Höhe an den Bestand an. Das Staffelgeschoss setzt sich in seiner Geometrie vom Hauptbaukörper ab und verleiht dem Neubau städtebauliche Präsenz.

Lageplan (Zeichnung: Winking · Froh Architekten)
Wie organisieren Sie die Neubebauung am Paul-Nevermann-Platz?

Die großformatige Öffnungsstruktur unterstreicht die öffentliche Nutzung im Erdgeschoss. Eingerückte Bereiche markieren die Eingänge zu den unterschiedlichen Nutzungen, sie verteilen sich auf alle Fassadenseiten, so dass das neue Haus nach Außen offen und einladend wirkt. 

Das Haupttreppenhaus für die Büroflächen und Arztpraxen liegt im Osten an der Max-Brauer-Allee, während die Haupterschließung vom Hospiz sich nach Westen zur neuen Grünverbindung orientiert. Die beiden Bankfilialen erhalten jeweils einen eigenen Eingang von der Max Brauer Allee. Die öffentlichen Nutzungen, wie Restaurant, Café, Läden et cetera werden hauptsächlich von der neuen Passage aus erschlossen. Diese soll, vom Verkehr abgewandt, mit Außensitzplätzen und Angeboten zum Verweilen auch in den Abendstunden belebt sein. Die Tiefgarage erhält ihre Zu- und Abfahrt von der Max Brauer Allee, im Übergang zwischen Alt- und Neubau. Zur zusätzlichen Belebung des neuen Quartiers wird vorgeschlagen, den zweigeschossigen gläsernen Sockel des Hochhauses zu einer öffentlichen Nutzung umzuwidmen.

Der östliche Gebäudeflügel an der Max Brauer Allee beherbergt im Erdgeschoss und 1. Obergeschoss die beiden Bankfilialen und in den Obergeschossen die Büro- und Arztpraxen. Der westliche Flügel, welcher sich zum neuen ruhigen Grünzug orientiert ist den Sonderwohnformen (altengerechtes Wohnen und Hospiz) vorbehalten. Das Erdgeschoss erhält zur Passage und nach Westen öffentliche Nutzungen, wie Cafe, Restaurant, Bar, Läden und einen Pflegedienst.

Grundrisse Erdgeschoss, Regelgeschoss und Dachgeschoss (Zeichnungen: Winking · Froh Architekten)
Ansichten West und Ost, Schnitt (Zeichnungen: Winking · Froh Architekten)
Welches architektonische Thema war Ihnen besonders wichtig?

Ein wichtiges Thema unserer Arbeit war die Schaffung eines öffentlichen Raumes zwischen Neubau und Bestandshochhaus mit hoher Aufenthaltsqualität, welcher eine qualitativ hochwertige Nutzung der Erdgeschosszonen erlaubt. Der neue Grünzug als Verbindung zwischen Platz der Republik und der Neuen Mitte Altona wird in drei Felder eingeteilt. Den nördlichen Teil prägt ein Baumdach aus Linden auf einer Grandfläche. Zum Bahnhof ist eine große Bank angeordnet, die von beiden Seiten genutzt werden kann. Sie ist räumlicher Schutz und Aufenthaltsangebot für Busreisende und Erholungssuchende zugleich. Die beiden südlichen Parkfelder sind über Rasenstufen etwas abgesenkt, so dass sie im Sinne des klimaangepassten Bauens Rückhaltevolumen für Starkregenfälle bieten und gleichzeitig auf den Rasenstufen Sitz- und Aufenthaltsangebot mit Blick zur Sonne ermöglichen. So ist der Grünzug nicht nur gestaltetes Vorfeld für die neue Bebauung, sondern übernimmt gleichzeitig klimarelevante Aufgaben.

Den Eingang zur Passage von Norden prägt ein Wasserbecken, gefolgt von einem Baumhain aus Schneefelsenbirnen. Hinter einer Eibenhecke sind zwei transparente Schiebetore angeordnet. Ein weiterer Baumhain aus Birken, ebenfalls mit Eibenhecke und transparenten Schiebtoren, begrenzt die platzartige Erweiterung der Passage nach Westen. Die Schiebetore hinter den Hecken erlauben es, dass die Hofsituation der Passage abgeschlossen werden kann. Es entsteht ein vielfältiges Freiraumkonzept, in dem private und öffentliche Freiräume sich gegenseitig ergänzen und zum Verweilen einladen.

Blick in die Passage (Visualisierung: Winking · Froh Architekten)
Gibt es Besonderheiten im Energiekonzept?

Als übergeordnetes Ziel wird das Klimaschutzkonzept Stadt-Klima Altona (kurz IKK) im Entwurf und in der Ausführung des Neubaus angestrebt und Berücksichtigung finden. Die massive Baukonstruktion mit Lochfassade bietet durch ihre Speicherfähigkeit die Möglichkeit für eine Abpufferung kurzzeitig auftretender Wärme- und Kältelasten. Die hoch stehenden Fenster erlauben bis in die Raumtiefe eindringendes Tageslicht. Um für den Betrieb des Gebäudes zu erreichen, dass die Betriebskosten gering ausfallen, werden insgesamt alle elektrischen Bauteile energieeffizient ausgewählt. Bei der Auswahl der Systeme zum Heizen und Kühlen wird größter Wert darauf gelegt, dass bei den Erzeugungsanlagen keine fossilen Brennstoffe als Primärenergieträger eingesetzt werden. Photovoltaikanlagen zur Eigenstromerzeugung werden zum Einsatz kommen. Für die Wärme- beziehungsweise Kälteversorgung wird der Anschluss an das Fernwärmenetz genutzt und zusätzlich werden Wärmepumpen installiert. Es werden Hybriddecken zum Heizen, Kühlen und Lüften verwendet und sie besitzen gleichzeitig eine akustische Wirkung. Um den aktuell anfallenden Regenwasserereignissen gerecht zu werden und um Überflutungen im Gebäude zu vermeiden, wird auf dem Dach des Gebäudes ein Gründach mit Retentionsflächen angelegt. Neben der Speicherung in den Retentionsflächen wird die natürliche Verdunstung von Regenwasser gefördert. Die Begrünung der Fassaden des Staffelgeschosses und des Innenhofs tragen zu einem positiven Klima bei.

Detail (Zeichnung: Winking · Froh Architekten)
Welche Materialstrategie schlagen Sie vor?

Die historischen Zugehörigkeiten des Ortes zu Dänemark wie auch zu Preußen sollen sich in der Wahl des Fassadenmaterials für den Neubau wiederspiegeln. Dänemark wie auch Preußen bauten überwiegend sparsam und verwendeten einfache Materialien. Daran erinnernd haben wir für die Fassaden einen weiß geschlämmten Backstein vorgeschlagen.

Modell (Foto: Robert Vogel GmbH)
Neubebauung am Paul-Nevermann-Platz 5 in Hamburg-Altona
Einladungswettbewerb

Auslobung: Robert Vogel GmbH & Co Kommanditgesellschaft, im Einvernehmen mit der Freien und Hansestadt Hamburg, vertreten durch die Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen und das Bezirksamt Hamburg-Altona, im Einvernehmen mit der Freien und Hansestadt Hamburg
Betreuung: konsalt GmbH, Hamburg
 
Jury
Prof. Hilde Léon, léonwohlhage, Berlin, Vors. | Franz-Josef Höing, Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen, Oberbaudirektor | Johannes Gerdelmann, Dezernat Wirtschaft, Bauen und Umwelt, Bezirksamt Eimsbüttel (zuvor Bezirksamt Altona) | Olaf Schmidt, Robert Vogel GmbH & Co Kommanditgesellschaft | Hille Krause, kbnk Architekten, Hamburg | John Patrick Leyba, Robert Vogel GmbH & Co Kommanditgesellschaft | Christian Trede, Hamburg Altona | Thomas Adrian, Hamburg Altona | Tim Schmuckall, Hamburg Altona
 
1. Preis
Winking · Froh Architekten GmbH, Hamburg
Prof. Bernhard Winking
Mitarbeit: Frank Weitendorf, Louise Tusch
Haustechnische und Energieberatung: Michael Nuckel, GT-Consult
Landschaftsarchitektur: Peter Köster, Arbos Freiraumplanung

2. Preis
HPP Architekten GmbH, Hamburg
Matthias Latzke
Mitarbeit: Min Wang, Weronika Starosta, Laura Marie Johannsen
Brandschutz: Nils Hendrik Gnas, Corall Ingenieure GmbH
Tragwerksplanung: Ulf Zingel, Leonhardt, Andrä und Partner
 
3. Preis
DFZ Architekten GmbH, Hamburg
Stephen Kausch
Mitarbeit: Gerriet Behrens, Alexander Marks, Christoph Peetz, Philipp Schwab, Johanna Uhle, Mirko Wiczinowski
Tragwerksplanung: Wetzel & von Seht, Bernd von Seht
Landschaftsplanung: Ando Yoo, Y-LA Landschaftsarchitektur
Technische Gebäudeausrüstung: Dr. Torsten Warner, Assmann Beraten + Planen GmbH

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