Minimalinvasive bauliche Interventionen

STUDIO SOZIA
7. August 2024
Blick auf Bürgerzentrum und Rathausumfeld (Visualisierung: Studio Sozia)
Die Stadt Illertissen will ihr Rathausareal neu ordnen. Welche Ausgangssituation haben Sie vorgefunden?

Das Rathausareal im historischen Stadtzentrum bildet mit dem Rathaus und dem repräsentativen Sitzungssaal in der Schranne das politische Zentrum der Stadt Illertissen. Durch die geplante Ansiedlung weiterer öffentlicher Nutzungen mit Vereinshaus, Bürgerzentrum, Tafel und Musikschule soll das Areal zukünftig auch zum Repräsentationsort bürgerlicher Interessen werden. Das Areal ist geprägt durch eine stark heterogene Bestandsbebauung, welche sich durch unterschiedliche Nutzungen, Volumetrien, Fassadengestaltungen und Baujahre charakterisiert. Durch den funktional geprägten Außenraum und den hohen Anteil versiegelter Flächen für PKW-Stellplätze und die ehemalige Alarmausfahrt des Feuerwehrhauses ist das Rathausumfeld aktuell nur schwer als zusammenhängendes Areal lesbar. 

Der vorhandene Baumbestand, die zentrale Lage in der Illertissener Altstadt, die funktionale Vielfalt und die Öffentlichkeit der Umgebungsbauten und ihre städtebauliche Lage bieten jedoch großes Potential für eine Aktivierung zum neuen Stadtzentrum. 

Bestand (Quelle: Auslobung)
Wie fanden Sie zum vorgeschlagenen Gesamtbild?

Ziel war es, die vorgefundene, stark heterogene Bestandsbebauung, zu einem Ensemble zusammenzufügen und die bereits bestehende Platzsituation, die durch das zukünftige Bürgerzentrum aufgespannt wird, als verbindendes Element zu etablieren. 

Um den zentralen Platz stärker zu rahmen, werden die Bereiche zwischen den Bestandsbauten durch unterschiedliche Nutzungen wie Foyer, Forum, Bürgergarten und Werkhof verknüpft und mittels differenzierter landschaftlicher Interventionen räumlich zusammengefasst und verdichtet. 

Während der heterogene Rand und seine neuen Außenräume spezifische Nutzungen vorschlagen, soll der zentrale Platz als flexibel bespielbarer Stadtgarten verstanden werden. Die Flächen bieten unterschiedliche räumliche Qualitäten wie introvertiert, extrovertiert, sonnig, schattig, hart und weich und schaffen so, in Kombination mit beweglichen Sitzmöbeln, die Grundlage zur Bespielung mit mannigfaltigen Nutzungsszenarien. Während kleinere Veranstaltungen wie der Wochenmarkt sich zwischen den Grünflächen des zentralen Platzes verteilen, können Großveranstaltungen wie Stadtfest und Weihnachtsmarkt durch eine Nutzung der Randflächen über das ganze Areal verteilt werden. Durch eine ganzheitliche Neugestaltung der Freiflächen entsteht ein Ort, der die Vielfalt des öffentlichen Lebens zusammenbringt.

Situation (Axonometrie: Studio Sozia)
Wie organisieren Sie die Neuordnung von Bürgerzentrum und Rathausumfeld?

Der Hauptzugangsbereich zum Areal zwischen Rathaus und Vereinsgebäude wird als Wartebereich und Treffpunkt mit Sitzmobiliar und Infotafeln bespielt. Das »Forum« auf dem Schrannenplatz wird durch ein großes, rundes Sitzelement zum Diskutieren im Anschluss an die Ratssitzungen einladen. Der Freizeitbereich, welcher sich zwischen Schranne, ehemaliger Feuerwehr und Walser Gebäude aufspannt, lädt mit einem Kinderspielbereich, Bürgergarten und natürlicher Freilichtbühne zum aktiven Mitmachen ein. Der auch bisher infrastrukturell genutzte Bereich östlich des Adlergebäudes soll auch zukünftig erhalten bleiben. Neben den 45 Stellplätzen finden zahlreiche Fahrradstellplätze Platz. Ein landschaftliches Hochbeet-Element fasst in funktionaler Nähe zu den Außenbereichen von Vereinshaus und neuer Werkstatt 16 neue Fahrradabstellplätze/-Reparaturstation sowie Sitzbänke für den Biergarten und schafft gleichzeitig eine visuelle Trennung zum ruhenden PKW-Verkehr.

Der zentrale Platz soll im Gegensatz zur heterogenen Randstruktur als multicodierbare Fläche verstanden werden. Durch die lineare Schichtung unterschiedlicher Grün- und Bodenflächen wird in Abgrenzung zur Freiflächengestaltung des Marktplatzes eine kleinteilige Wirkung bei gleichzeitiger Sicht- und Wegeverbindung in und aus allen Richtungen ermöglicht. Dabei werden die natürlichen Höhenunterschiede des Geländes geschickt genutzt, um Sitzmöglichkeiten zu integrieren und abwechslungsreiche Räume zu schaffen. Blühende Stauden unter den alten, wertvollen Bäumen setzen optische und ökologische Akzente und schaffen eine intime Atmosphäre.

Grundriss Erdgeschoss Umbau (Zeichnung: Studio Sozia)
Schnitt (Zeichnung: Studio Sozia)
Welches architektonische Thema war Ihnen besonders wichtig?

Das Lesen und Verstehen sowie das Weiter- und Neudenken des Bestandes: da die vorgefundene Gebäudestruktur des L-förmigen Bestandsgebäudes, bestehend aus zwei weitspannenden Gebäudeschenkeln in Skelettbauweise und einem verbindenden »Gelenk« mit einer kleinteiligeren Struktur tragender Wandscheiben, die ideale Grundlage für eine Nutzung als Veranstaltungs- und Verwaltungsbau bildet und zudem eine spannende architektonische Komposition bildet, sollen die prägenden Gebäudemerkmale des Bestandsbaus wie Volumetrie, Tragstruktur, Organisation und die Orientierung durch Pultdach und großflächige Toröffnungen erhalten und durch minimalinvasive bauliche Interventionen räumlich gestärkt werden. Um die innere Struktur klarer herauszuarbeiten, werden in einem ersten Schritt nichttragende Wände und Einbauten rückgebaut. Während die großflächigen Nutzungen wie Veranstaltungsbereich und Verwaltung mit Stadtarchiv im Erdgeschoss bzw. Obergeschoss der beiden Gebäudeschenkel untergebracht werden, soll das Gelenk dienende Räume, wie Erschließung und Foyer beherbergen.

Die große Schwachstelle des Bestandsgebäudes ist die aufgrund mangelnder Raumhöhe funktional ungenügende Erschließungszone entlang der West- und Südfassade. In einer einzigen baulichen Intervention, der Anpassung der Dachgeometrie mit flacherem Winkel, dem Austausch der Fassade und der Integration eines Balkons, kann diese Schwachstelle behoben und mit vielfältigem Mehrwert aufgeladen werden: Der Balkon fungiert nicht nur als konstruktiver Sonnen- und Witterungsschutz für den Veranstaltungsbereich im Erdgeschoss, sondern auch als flexibler Arbeitsplatz und erweiterter Sozialbereich.

Besonderen Stellenwert hatten für uns der Umgang und Re-Use mit Bestand- und Abbruchmaterialien, minimalinvasive Eingriffe in die Gebäudestruktur, Lowtech-Lösung in der Gebäudeautomation des Energiekonzeptes und ein außerordentlich hohes Maß an funktionaler Flexibilität, um auch bei sich zukünftig geänderten Bedürfnissen und Anforderungen Langlebigkeit zu ermöglichen. 

Nachhaltigkeit (Axonometrie: Studio Sozia)
Nachhaltigkeit (Axonometrie: Studio Sozia)
Nachhaltigkeit (Axonometrie: Studio Sozia)
Können Sie uns über das Rathausumfeld und durch das Bürgerzentrum führen, als ob es schon fertiggestellt wäre?

Das Rathausumfeld wird weiterhin von den bestehenden großstämmigen Bäumen geprägt. Anstatt der vollflächigen ehemaligen Parkierungszone strukturiert das Rathausumfeld nun ein vielfältiger, differenzierter, dichter Grünraum im Wechsel mit Schotterrasen. Die freie Bestuhlung lädt die Bürgerinnen und Bürgern Illertissens zur individuellen Aneignung des Grünraums ein und wird so tagsüber zum zentralen Platz und Abends zur grünen Erholungszone. Flankiert wird das Rathausumfeld vom umgebauten Bürgerzentrum, welches mit den großzügigen, umgenutzten Feuerwehrtoren einen schwellenlosen Übergang vom Rathausumfeld zum Bürgerzentrum bietet. Auch die vormals stark introvertierte Fassade im ersten Obergeschoss schafft nun durch die neuen, großflächigen Schiebeverglasungen und den vorgelagerten Balkon eine visuelle Verbindung der Verwaltung zur neuen grünen Mitte. Die unterschiedlichen Nutzungen und Öffentlichkeiten vom Erdgeschoss mit dem ehemaligen Schlauchturm und dem Obergeschoss sind in der unterschiedlichen Materialisierung und Farbigkeit der durch eine Außendämmung energetisch ertüchtigten Fassade ablesbar. 

Das neue Foyer bietet einen barrierefreien Zugang und empfängt die Besucher und Besucherinnen mit einem atmosphärischen Oberlicht. Es wird als offenes Haus für Alle verstanden und bietet durch die raumhaltige Möbelwand ausreichend Stauraum, sodass das Bürgerzentrum stets mit neuen und individuellen Formaten bespielt werden kann und die Frequentierung des Gebäudes maximiert wird. Ausgestattet mit Garderobe, Stuhllager, Teeküche, Lager für mobile Bühne und mobile Bar, Sitznischen und Spinden, welche für die unterschiedlichen wöchentlich wiederkehrenden Nachbarschaftsformate gemietet werden können, verläuft dieses entlang des stark geschlossenen Gebäuderückens, unterstützt dabei die bereits vorhandene Gebäudeausrichtung und schafft zugleich ein repräsentatives Erscheinungsbild in Foyer und Veranstaltungssaal.

Szenario Veranstaltung (Visualisierung: Studio Sozia)
Welche Materialstrategie schlagen Sie vor?

In Anlehnung an die bestehende Materialisierung werden die bestehenden Stahlbetonstützen mit neuen Stahlbeton-Fertigelementen verkleidet. Diese aus dem Abbruchmaterial hergestellten und punktuell an den Bestandstützen verankerten Elemente dienen gleichzeitig der Lastabtragung des neuen Balkons. Der Turm als Aussichts- und Kinderspielbereich sowie die opaken Rück- und Seitenwände werden mit einer hinterlüfteten Putzfassade mit vertikaler Kammstruktur versehen. Das neue Dach und die Außenwände des Obergeschosses werden witterungsbeständig mit einer Blechfassade verkleidet. Fensterrahmen und Blechfassade erhalten in Anlehnung an die Umgebungsbebauung und die neue grüne Mitte eine hellgrüne Färbung, Putz und Stahlbetonfertigteile im Erdgeschoss eine entsättigte, mittelgrüne Akzentuierung.

Der bestehende, durch die ehemalige Feuerwehr geprägte, industrielle Charakter des Innenraums wird durch ein wohnlich anmutendes raumhaltiges Einbauelement komplettiert.

Detalschnitt (Zeichnung: Studio Sozia)
Gibt es schon einen geplanten Fertigstellungstermin?

Über einen Fertigstellungstermin gibt es bisher keine konkreten Informationen. Da dieses Projekt jedoch wegweisend für Illertissen sein soll und der Bedarf am Bürgerzentrum hoch ist, sollte mit der Planungsaufgabe so früh wie möglich begonnen werden. Erste Gespräche werden mit den Beteiligten aktuell geplant und vorbereitet.

Bürgerzentrum und Rathausumfeld in Illertissen
Nicht offener Wettbewerb
 
Auslobung: Stadt Illertissen
Betreuung: SCHIRMER Architekten + Stadtplaner GmbH, Würzburg
 
Jury
Prof. Johannes Kappler, Architekt, Stadtplaner, Nürnberg (Vors.) | Christian de Buhr, Landschaftsarchitekt, Sommerhausen | Prof. Susanne Burger, Landschaftsarchitektin, München | Doris Grabner, Landschaftsarchitektin, Stadtplanerin, Freising | Prof. Mikala Holme Samsøe, Architektin, Berlin/Augsburg | Prof. Minka Kersten, Architektin, Berlin
Prof. Günter Weber, Architekt, Stuttgart | Jürgen Eisen, Erster Bürgermeister, Illertissen | Helga Sonntag, Zweite Bürgermeisterin und Fraktionsvorsitzende, Illertissen | Ansgar Bauer, Fraktion, Illertissen | Gilbert Kammerlander, Fraktion, Illertissen | Kasim Kocakaplan, Fraktionsvorsitzender, Illertissen | Ewald Ott, Vorsitzender Fraktion, Illertissen
 
1. Preis
STUDIO SOZIA Calavetta Häberle Architekten BDA PartGmbB, Karlsruhe | Lisa Häberle, Valerio Calavetta
stadtplus Planungsbüro für Landschaftsarchitektur, München | Wolfgang Stattmann, Mitarbeit: Michael Karl
Tragwerksplanung: C4 engineers GmbH | Boris Peter, Jochen Riederer
Brandschutz: hhpberlin | Petra Winkler, Tim Kiefer
Energiekonzept: Transsolar KlimaEngineering | Stefan Holst, Christian Oberdorf
HLS: Ingenieurbüro für Gebäudetechnik Uwe Häberle | Uwe Häberle
 
3. Preis
Schwabmayer Architekten GbR, Breisach | Philipp Schwab
böwer eith murken architekten partg mbb, Freiburg | Frank Winterhalter, Ludwig Eith
Pit Müller Freier Landschaftsarchitekt, Freiburg

3. Preis
Octagon Architekturkollektiv, Leipzig | Markus Wiese, Prof. Henry Fenzlein, Prof. Julia Köpper, Philip Stapel
TILIA Innovation GmbH, Leipzig | Christian Schulz
JUCA Landschaft und Architektur, Berlin | Judith Brückner, Carolin Fickinger
Mitarbeit: Markus Storch, Christa Rodriguez Garcia
 

Vorgestelltes Projekt

dasch zürn + partner

Neubau Zentrales Feuerwehrgerätehaus Rheinfelden

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