Matthäikirchhof in Leipzig
Das Architekturbüro Riehle Koeth mit Levin Monsigny Landschaftsarchitekten gewinnt den Wettbewerb für den Matthäikirchhof in Leipzig. Maximilian Köth stellt sich unseren Fragen zum Wettbewerb.
Am nordwestlichen Rand des Leipziger Stadtzentrums gelegen soll das etwa zwei Hektare große Areal des Matthäikirchhofs zu einem lebendigen, gemischten Quartier entwickelt werden. Welche Ausgangssituation haben Sie vorgefunden?Der Matthäikirchhof ist in mehrfacher Hinsicht ein für Leipzig prägender Ort.
Zum einen stellt das Wettbewerbsgebiet einen der bedeutendsten siedlungsgeschichtlichen Bereiche Leipzigs dar. Ausgehend von einer ersten slawischen Siedlung zwischen dem 7. und 8. Jahrhundert, über eine ottonische Burganlage (»urbe Libzi«) im 10. Jahrhundert bis hin zu einer Franziskaner Klosteranlage aus dem 13. Jahrhundert mit der namensgebenden, erstmals 1894 als St. Matthäi erfassten Pfarrkirche ist der Matthäikirchhof die Keimzelle der Stadtgründung und Stadtentwicklung Leipzigs.
Zum anderen ist der Matthäikirchhof nach der Zerstörung im zweiten Weltkrieg und durch die Geschichte der DDR mit der Errichtung der großmaßstäblichen Erweiterungsbauten der Deutschen Volkspolizei (DVP) und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BVfS) in den 1980er-Jahren ein politisch aufgeladener und historisch authentischer Ort, von dem die Ereignisse der Friedlichen Revolution 1989 und damit entscheidende Impulse für das Ende der DDR und der Teilung Deutschlands ausgingen.
Stadtgeschichtlich mehrfach überbaut, zerstört und wiederaufgebaut entwickelt sich das Projekt des Neuen Matthäikirchhofes auf dem Untergrund vieler Zeitschichten in einem besonderen Spannungsfeld von geschichtsträchtiger Historie und hoch-aktuellem Diskurs über Demokratie-Erhalt in der Gegenwart zu einem zukunftsgewandten, lebendigen Quartier auf einer der größten innerstädtischen Brachen der Bundesrepublik.
Die Grundhaltung des Entwurfs erklärt sich aus der Vielschichtigkeit der Aufgabenstellung und dem »Partizipations-Gedanken«, der sich neben dem offenen zweiphasigen Wettbewerbsverfahren zuvorderst im Format der mehrstufigen Bürgerbeteiligung widerspiegelt und im Sinne von Offenheit und Transparenz die Akzeptanz für den zukünftigen Matthäikirchhof in der Stadtgesellschaft stärkt. Der Entwurf platziert in seiner angestrebten Rolle als Vermittler bewusst keine dogmatischen oder radikalen Positionen, sondern versucht auf demokratische Weise die vielen unterschiedlichen, teilweise im Widerspruch stehenden Bedürfnisse und Anforderungen zu versöhnen.
So werden auf dem Areal alte Wegeverbindungen und Baukanten wieder aufgenommen – jedoch nicht im Geiste einer Rekonstruktion, sondern als positive Erinnerung an vergangene Stadträume. Die ehemaligenBauten der DVP und BVfS werden dabei weder negiert noch inszeniert. Diejenigen in ihrer Bausubstanz stark beeinträchtigten und stadträumlich blockierenden Gebäude-Flügel des historischen Bestandes werden als Rückbaumasse identifiziert, was eine städtebauliche Öffnung des Areals vom Altstadtkern zum Promenadenring erlaubt. Der gut erhaltene nördliche Gebäuderiegel hingegen, der ohnehin auf einer ehemaligen Kante im historischen Stadtgrundriss zu liegen kommt, wird als »geschichtsträchtiger Zeitzeuge« und nicht zuletzt auch als »graue Energie« erhalten. Markante bauliche Elemente des historischen Bestands, wie das nördliche Treppenhaus und die mosaikartige Fassade in Teilen des Erdgeschosses bleiben ebenso wie die Kubatur und die Grundstruktur des Gebäudes im Gedächtnis der Stadt erhalten. So lassen sich die »Zeitschichten« der Vergangenheit ablesen, ohne dem Ort eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung zu verwehren.
Im Zentrum der neuen, städtebaulichen Komposition wird durch den Teilrückbau der historischen Bauten der DVP und BVfS ein markanter Neubau für das »Forum für Freiheit und Bürgerrechte« als selbstbewusster Solitär mit öffentlicher Präsenz ermöglicht. Stadträumlich steht das Kernstück des neuen Matthäikirchhofes im allseitigen Dialog mit drei neuen öffentlichen Stadträumen unterschiedlichen Charakters: dem sich zur Kernstadt orientierenden, urbanen Stadt-Platz, der sich zum grünen Promenadenring hin öffnenden, grünen Agora und dem zum Museum an der »Runden Ecke« hin gefassten Museumshof. Stadtgeschichtlich erlaubt der Forums-Neubau im Zusammenspiel mit dem erhaltenen historischen BVfS-Gebäudeteil sowie dem Stasi-Museum und -Unterlagenarchiv an der »Runden Ecke« die wichtige inhaltliche Auseinandersetzung und räumliche Verbindung mit der DDR-Vergangenheit und wird im hier und jetzt zum »Ort der gelebten Demokratie«.
Komplettiert wird der neue Matthäikirchhof durch wenige präzise ergänzende Interventionen: Ein mehrgeschossiger Baukörper mit öffentlichen Nutzungen bildet mit der städtebaulichen Figur des Bestandsgebäudes am Dittrichring eine lesbare, räumliche Einheit. Die neue Wohnbebauung im Norden mit teilweise erdgeschossiger gewerblicher Nutzung integriert den ehemaligen BVfS-Bau in eine Blockrandstruktur und bildet mit der umgebenden Bebauung des »Großen Blumenberg« zwei geschützte Wohnhöfe aus. In ihrer Körnung strickt die Wohnbebauung die kleinteilige Struktur der Kernstadt weiter und trägt so zu einer Reparatur des zuvor maßstabslosen Stadtraums bei.
Im Ergebnis entsteht ein ebenso zukunftsorientiertes wie geschichtsbewusstes Stadtquartier, welches mit seinen vielfältigen öffentlichen Räumen, Bildungs- und Kultureinrichtungen, öffentlichen Dienstleistungen, Wohnungen und Flächen für Kleingewerbe zu einem lebendigen, revitalisierten Stadtzentrum beitragen wird und mit dem neuen »Forum für Freiheit und Bürgerrechte« die hochaktuelle und wichtige Rolle zur Stärkung und Wahrung der Demokratie wahrnimmt.
Das städtebauliche Konzept sieht im Zusammenspiel aus Bestandsbebauung und Neubaustrukturen eine Serie klar definierter halböffentlicher und öffentlicher Räume unterschiedlichen Charakters und Funktion vor. Die neuen Freiräume des Quartiers bieten im wahrsten Sinne des Wortes Räume für ein freies urbanes Leben und fügen sich selbstverständlich in das historische Gefüge der Umgebung ein. Sie sind Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Die unterschiedlichen, klar definierten Freiräume sind für Begegnungen, gemeinschaftliches Miteinander und vielfältige Veranstaltungen konzipiert.
Der Stadtplatz im Schnittpunkt von Großer Fleischergasse und Jägerhofpassage ist fester Bestandteil des Rundgangs durch die Leipziger Altstadt und lädt zum Flanieren und Verweilen ein. Er ist gleichzeitig der Vorplatz des Forums und kann vielfältig genutzt werden.
Die Agora als leicht abgestufte Rasenfläche, klar begrenzt durch Fassaden, Baumreihen und die alte Stadtmauer zum Promenadenring, bildet einen offenen, multifunktionalen Grünraum in der Stadt. Hier kann man sitzen, liegen, spielen oder an den vielfältigen Außenaktivitäten des Forums teilnehmen.
Der Museumshof wird zu einer ruhigen, kontemplativen grünen Oase mit erhöhter Biodiversität für die Mitarbeiter und Besucher des Museums und des Archivs umgestaltet.
Die beiden halböffentlichen Wohnhöfe sind ebenfalls großzügig begrünt, ermöglichen aber eine fließende Durchwegung und Belebung des Erdgeschosses durch Ateliers, Läden und eine Galerie. Spielmöglichkeiten für Kinder aller Altersgruppen und Sitzgelegenheiten unter Bäumen tragen zu einer angenehmen Wohnatmosphäre bei.
Die Neue Töpferstraße wird entlang der verbliebenen Reste der Stadtmauer als erhöhte Stadtpromenade zwischen Stadt und Park wiederhergestellt. Sie ist ein bevorzugter Aufenthaltsort mit Blick in den Park und für Gastronomieterrassen.
Alle Freibereiche berücksichtigen die Prinzipien der Schwammstadt und der Klimaanpassung: Versiegelte und begrünte Flächen werden so gestaltet, dass Regenwasser vor Ort versickert und verdunstet oder zugunsten der Vegetation gespeichert wird.
Dem Umgang mit dem historischen Gebäudebestand der DVP und BVfS kommt durch die pragmatische, aber präzise hergeleitete Entwurfsentscheidung von Erhalt und Abriss jeweils bestimmter Gebäudeteile die beschriebene Vermittlerrolle zu, sowohl die städtebaulich unzufriedenstellende, abschottende Wirkung des Areals stadträumlich zu verbessern als auch Teile des politisch aufgeladenen Gebäudebestandes als Spuren der Vergangenheit im Gedächtnis der Stadt und nicht zuletzt als graue Energie zu erhalten. Im Wettbewerb konnte diese Haltung zwischen dogmatischen Extrempositionen von Komplett-Erhalt und Komplett-Abriss überzeugen.
Im Umgang mit der innerstädtischen, entwicklungsgeschichtlich bedeutenden Lage kommt den Nahtstellen und Anknüpfungspunkten an die bestehenden Ränder der gewachsenen Stadt die Aufgabe zu, Bestehendes und Neuartiges zu verweben und zu vernähen, um eine Kontinuität in der Stadt zu wahren und dem Areal gleichzeitig ein identitätsstiftendes, zukunftsorientiertes Gesamtbild zu geben. Auch dies ist in gewisser Weise eine vermittelnde Haltung aus Weiterbauen und Neubauen, Bewahren und Intervenieren, Tradition und Innovation, Kontinuität und Wandel.
Die momentan bekannten Themen und Schwerpunkte für den Neuen Matthäikirchhof sind bereits in den vorherigen Antworten so greifbar wie möglich beschrieben. Darüber hinaus sind das Entwurfskonzept und der städtebauliche Masterplan aktuell mehr Strategie als konkrete Umsetzungsgrundlage. Es handelt sich ja um ein Stück Stadt, das mit dem bestehenden Kontext auf vielen Ebenen vernetzt und verwoben werden möchte.
Städtebaulich wünschen wir uns ein geöffnetes und einladendes Areal mit einer deutlichen Verbesserung zur aktuell unbefriedigenden, weil abschottenden stadträumlichen Wirkung.
Auf übergeordneter Ebene schwebt uns das Bewahren und Fortschreiben von Erinnerungen und Geschichte vor, um die Zeitschichten aus der Vergangenheit auch in Zukunft spürbar und erlebbar zu machen.
Ein Idealwunsch wäre, dass am Ende vielleicht doch sehr unterschiedliche Positionen im Umgang mit dem politisch aufgeladenen, sensiblen Gebäudebestand aus der DDR-Vergangenheit mit Blick auf ein akzeptiertes, zukunftsorientiertes, innerstädtisches Quartier versöhnt werden können.
Der Neue Matthäikirchhof ist ob seiner politischen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Dimension kein klassisch greifbares Hochbauprojekt mit einem fest geplanten Fertigstellungstermin. Wir möchten im Geiste des Mutes und der Offenheit des bisherigen partizipatorischen Entwicklungsansatzes den langen Weg begleiten und eingeschlagenen Prozess der Bürgerbeteiligung fortschreiben, um zu einem gesellschaftlich akzeptierten zukünftigen Quartier zu gelangen. In Anbetracht der langen Geschichte des Matthäikirchhofes ist ein behutsamer Prozess mit sensiblen klugen Entscheidungen aus Respekt vor dem Ort sicherlich ratsam.
Offener Wettbewerb
Auslobung: Stadt Leipzig, Stadtplanungsamt
Betreuung: Büro für urbane Projekte, Leipzig
Jury
Prof. Markus Neppl, Köln (Vors.) | Kirstin Bartels, Hamburg | Thomas Dienberg, Bürgermeister Stadt Leipzig | Dr. Marta Doehler-Behzadi, Leipzig | Anne Femmer, Leipzig | Dr. Matthias Fuchs, Darmstadt | Heiko Kuppardt, Leipzig | Jórunn Ragnarsdóttir, Stuttgart | Till Rehwaldt, Dresden | Prof. Eike Roswag-Klinge, Berlin | Matthias Rottmann, Köln | Prof. Amandus Samsøe Sattler, Berlin | Burkhard Jung, OB Stadt Leipzig | Dr. Skadi Jennicke, Bgm. Stadt Leipzig | Tobias Kobe, Stadt Leipzig | Prof. Dr. Michael Hollmann, Präs. Bundesarchiv | Bastian Wahler-Zak, BBSR | Franziska Riekewald, Stadträtin | Katharina Krefft, Stadträtin | Dr. Sabine Heymann, Stadträtin | Udo Bütow, Stadtrat | Dr. Getu Abraham, Stadtrat | Anja Feichtinger, Stadträtin | Ute Elisabeth Gabelmann, Stadträtin | Pascal Schaefer, Bürgervertreter
1. Preis
RIEHLE KOETH, Stuttgart | Hannes Riehle, Maximilian Köth
Mitarbeit: Mario Walker, Philipp Vögele, Johannes Rinderknecht, Florian Nerz, Katharina Klug
Levin Monsigny Landschaftsarchitekten, Berlin | Luc Monsigny
Modell: Béla Berec
2. Preis
FAM Architekten, München | Minh Vu Tran-Huu, Aaron Koch, Florian Hartinger
Mitarbeit: Mira Sophie Keipke, Marlene Niebauer
Studio Erde, Berlin | Marcel Tröger
Mitarbeit: Violeta Burckhardt, Jonas Möller
3. Preis
SERO Architekten, Leipzig | Sebastian Schröter, Felix Minkus, Dominik Keul
Mitarbeit: Eva Pfenning, Damir Divkovic, Magdalena Wiegmann, Lea Sophie Krüger, Oskar Gamböck, Isabel Averdam
Rainer Schmidt Landschaftsarchitekten, München
Mitarbeit: Lukas Bihler, Lin Tú, Tanjina Khaleque, Yufei Wang, Jingyi Zhang
Tragwerk/Brandschutz: B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann, Frankfurt am Main
Modell: Andreas Öhmichen, Leipzig