Stuttgart 21

Ursula Baus
30. November 2011
Der Stuttgarter Hauptbahnhof, am 25.11.2011 vollgeräumt mit Plunder: Die Bahn kennt bei Bonatz keine Baukultur (Bild: Ursula Baus) 

Das "Volk" hat entschieden, Stuttgart 21 soll bis 2019 gebaut werden. Oder vielleicht auch 2020. Nach der Abstimmung in Baden-Württemberg stimmt kein einziges Argument für oder wider mehr oder weniger als vorher – doch ein demokratisches Verfahren wird nun politische Handlungen legitimieren. Ich war gegen Stuttgart 21, weil die Mobilität des 21. Jahrhunderts viel leistungsfähigere Konzepte braucht als die im staubigen Stuttgart 21-Projekt vorgesehenen. Und bei dieser Meinung bleibe ich, auch in einer Minderheit. Das Ergebnis wird durchweg akzeptiert, zeigt aber auch die jämmerlichen Grenzen einer Entscheidung zwischen "Ja" oder "Nein", nach der hier vor Ort in Stuttgart die Knochen sortiert werden. Alle Reaktionen nach dieser Wahl bestätigen wenigstens, dass die Landesregierung mit Wilfried Kretschmann, der just zum "Politiker des Jahres" gekürt worden ist, zum Glück eine Persönlichkeit an ihrer Spitze sieht, die mit einer allenthalben vermissten Tugend überzeugt: Glaubwürdigkeit.
Wir sehen hier in Stuttgart genau auf Reaktionen aus nahen und fernen Orten, fachlich relevanten und fachfremden Kreisen, irgendwie betroffenen oder sekundär tangierten Gruppen. Ferne, fachfremd und sekundär Betroffene müssen sich vorwerfen lassen, dass sie mit oberflächlicher Analyse der S21-Gegner, der Occupy-Bewegung, der Wendland-Protestierenden eine "No-Culture" proklamieren und die Mühe scheuen, sich das Wissen über alternative Konzepte anzueignen; mehr oder weniger alle Proteste werden allenfalls auf fehlende Kommunikation und ungenügende Mediation reduziert. Und es wird das unglaubliche Potenzial missachtet und zur Seite geschoben, das von Andersdenkenden erarbeitet wird.
Selten hat ein architektur- und stadtplanungsrelevantes Projekt eine dermaßen politische Dimension wie Stuttgart 21. Zunächst war die Landtagswahl in Baden-Württemberg als "Stuttgart-21-Wahl" gewertet worden. Die eigentliche Stuttgart-21-Wahl fand aber mit der Volksabstimmung am vergangenen Wochenende statt. So muss also rückblickend die Landtagswahl eine politisch motivierte gewesen sein, die jetzt dem Ministerpräsidenten zugute kommt. Ihm muss es nach dem S21-Wahlergebnis gelingen, die blödsinnige Konfrontation von Gewinnern und Verlierern, die Polarisierung mit (wieder mal) falschen Gegensätzen in konstruktive Politik umzusetzen.
Für Stuttgart 21 bleiben auch die Kosten relevant: Schon am Tag nach der Volksabstimmung stellt die Bahn klar, dass sich insbesondere das Land an den "möglichen Mehrkosten" des Projektes, die sie zwei Tage zuvor nahezu ausgeschlossen hatte, beteiligen müsse. Womit wir wieder bei der Glaubwürdigkeit sind.
Viele überraschte das S21-Wahlergebnis in seiner Deutlichkeit. Tja, hier in Stuttgart hat man die Stimmungsmache deutlich verfolgen können. Gefeiert wurde das Ergebnis auch als "Rache der CDU": Landtagsfraktionschef Peter Hauk (CDU) meinte von einer Bierbank aus: "Wir sind die einzige kampagnenfähige Kraft". Genau daran kranken die Großprojekte generell: Es fehlen die offenen, transparenten, sachlichen Auseinandersetzungen. Kampagnen sind in einer sachlichen Auseinandersetzung so untauglich wie Lobbyisten in der Politik. Boris Palmer, OB von Tübingen und zweifellos einer der kenntnisreichsten und klügsten Streiter um Stuttgart 21, sieht als klarsten "Verlierer" in der ganzen Angelegenheit die Bahn. Dem schließe ich mich nur bedingt an. Ich sehe in erster Linie die Reisenden als Verlierer, die mit der Mobilität des 19. Jahrhunderts abgespeist werden. Die Bahn baut einen Bahnhof wie ein iPhone für MS-DOS.

Die genauen Wahlergebnisse: http://extra.stuttgarter-zeitung.de/volksabstimmung/stz/

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