Ein Gespräch mit Armando Ruinelli

Susanna Koeberle
3. September 2024
Die Casa 65 fügt sich ins Geflecht des Bergdorfs Soglio ein. (Foto: © Ralph Feiner)

Herr Ruinelli, wir sitzen in Ihrem Atelier in Soglio. Ich möchte das Gespräch mit der Rolle dieses Dorfs beginnen, und zwar aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln: einem individuellen, einem historischen und daraus abgeleitet dem der Bedeutung dieses Ortes für Ihr Werk. Beginnen wir mit der persönlichen Ebene: Was bedeutet Ihnen Ihre Heimat Soglio?

Man kommt ja zufälligerweise an einem Ort zur Welt. Es bildet sich eine tiefe Beziehung zu diesem, und das war natürlich bei mir auch der Fall. Ich bin zudem einer, der an seinen Geburtsort zurückgekehrt ist. Erst dann entwickelte sich bei mir ein Bewusstsein dafür. Ich habe damals begonnen, das Tal analytisch zu betrachten. Dazu beigetragen hat auch der Basler Architekt Michael Alder, der in den 1980er-Jahren zusammen mit seinen Studierenden die Bauten in Soglio akribisch aufnahm. Ich habe an dieser Studie mitgearbeitet, und es kam dann dieser Moment, als mir ein Licht aufging. 

Und das mündete in eine architekturhistorische Betrachtung des Tals?

Ja, man versteht plötzlich, dass viele Details der lokaltypischen Bauten nicht zufällig so sind. Dahinter steckt ein tiefes Wissen; kein mathematisches, es ist vielmehr ein Gespür für Proportionen. Solche Überlegungen stehen auch bei mir am Anfang jedes Projekts.

Wie verstehen Sie den Begriff des Ortes? Inwiefern beeinflusst er einen Entwurf?

Je nachdem, was da ist, ist der Einstieg ein anderer. Es gibt immer einen Bezugspunkt, das kann auch nur eine Mauer in der Landschaft sein. Der Anfang eines Projekts wird durch ein Bauchgefühl bestimmt. Was ich dann in den Entwurf einfliessen lasse, ist aber eine bewusste und rationale Entscheidung. Zumindest ist das mit zunehmender Erfahrung immer stärker der Fall. Das hat auch mit einer gewissen Gelassenheit zu tun, mit dem Bewusstsein, dass man etwas kann. 

Das Bergell und speziell Soglio ist durch eine doppelte baukulturelle Tradition geprägt: zum einen die steinernen Palazzi, zum anderen die ruralen Bauten. Wie fließt diese Besonderheit in Ihre Arbeit ein?

Die Analyse bleibt stets die gleiche: Ich schaue, was da ist und was ich daraus für das Projekt mitnehmen kann. Ich betone dabei immer wieder, dass man heute zeitgenössisch bauen sollte. Man muss einem umgebauten Haus ansehen, dass es aus der heutigen Zeit stammt. Das ist häufig nicht der Fall, es wird immer noch viel nachgeäfft und nachgeahmt in der Architektur – gerade im Alpenraum. Das heißt für mich nicht, dass man nicht zitieren darf. Aber ich muss als Architekt dazu stehen können. 

Haus und Atelier Meier in Soglio (Foto: © Raymond Meier)

Sie haben Soglio mit Ihrer Arbeit stark geprägt. Wie stehen Sie dazu?

Ich bin froh, dass es mittlerweile hier im Dorf auch Projekte gibt, die nicht aus unserem Büro kommen. Mir wäre es unwohl, wenn man sagen würde: Soglio ist gleich Ruinelli. Es gibt auch junge Büros, das finde ich gut. Es besteht sonst die Gefahr, dass wir am Ende ein museales Dorf haben. Trotzdem: Ich stricke natürlich immer noch sehr gerne weiter an der Entwicklung von Soglios städtebaulichem Gefüge.

Was sind weitere spezifische architektonische Herausforderungen im Tal?

Eine wichtige Frage ist, was wir in den Dörfern mit den Ställen machen, die nicht mehr genutzt werden. Die Zweitwohnungsinitiative hat nicht viel gebracht, denn sie bezog sich auf die ganze Schweiz. Das Problem mit den Ställen besteht aber eigentlich nur in den Kantonen Wallis, Tessin und Graubünden. Man muss solche Probleme meiner Meinung nach über die Raumplanung lösen. Man erfand dann das Kriterium der »ortsbildprägenden Bauten«. So kam es, dass diese Bauten aussehen, als wären sie noch Ställe, doch in Wahrheit sind es Ferienwohnungen. Das ist verheerend für die Qualität der Architektur. Über dieses Thema habe ich unter anderem mit Gion A. Caminada diskutiert, einem Architekten, der wie ich im Alpenraum baut. Wir fragten uns, ob wir solche Umbauten überhaupt machen oder das anderen überlassen sollen. Manchmal wäre es besser, einen solchen Stall abzureißen und beispielsweise einen kleinen Platz zu gestalten.

Ist es das, was Sie einmal Entdichtung genannt haben?

Ja. Bei Vorträgen zeige ich gerne zwei Bilder: Eine Luftbildaufnahme von Soglio und einen einzelnen Bau in der Landschaft. So demonstriere ich einen Gegensatz: Verdichtung und Entdichtung.

Wie findet man die Balance zwischen Dorferneuerung und Dorfbewahrung?

Wenn man nicht erneuert, gibt es museumsartige Dörfer. Das ist nicht gut. Aber auch sogenannte architektonische Wahrzeichen sind keine Lösung. Damit sollte man sparsam umgehen. Ein solches Gebäude muss einen öffentlichen Charakter haben. Wenn man aus jedem Haus ein Wahrzeichen macht, kommt das nicht gut. 

Stall Meier in Soglio (Foto: © Raymond Meier)

Inwiefern spielen das Thema Materialität sowie die Verarbeitung und Herkunft von Baustoffen eine Rolle in Ihrer Arbeit? 

Ich schließe ganz am Anfang eines Projekts die Augen und stelle mir vor, wie ein Raum aussehen könnte. Schon hier kommen die Materialien ins Spiel. Ich glaube, ich habe ein gutes Gefühl für Stimmungen im Raum. Woher die Materialien genau kommen, ist nicht primär von Bedeutung. Sie müssen für mich nicht zwingend lokal sein. Ich möchte mich diesbezüglich nicht einengen lassen, aber gewiss ist die Herkunft immer auch ein Thema. Meine Stampfbetonhäuser wurden mit lokalem Kies gebaut. Beim Zement kommt natürlich schnell Frage nach der Ökologie auf. Zurzeit arbeiten wir etwa an einem Stampfbeton mit Sumpfkalk anstelle von Zement.

Worin besteht für Sie die Bedeutung des Handwerks?

Heute möchten viele Eltern, dass ihre Kinder studieren – auch wenn sie wissen, dass ihr Nachwuchs handwerklich begabt ist. Das finde ich schade. Die Würde des Handwerks geht vergessen. Deswegen mag ich Materialien, die einer guten Verarbeitung bedürfen. Ich investiere bei einem Projekt lieber in präzise Verarbeitung als in teure Materialien. Mit der Zeit habe ich mir ein Netzwerk an begabten Handwerkern aufgebaut. Ich schätze die Zusammenarbeit mit ihnen sehr. 

Wie stehen Sie zu kulturellen Initiativen im Tal? Mittlerweile ist der Kulturtourismus in alpinen Destinationen schon fast eine Mode geworden. Inwiefern sind Kunstanlässe eine Bereicherung für das Bergell?

Sie sind auf jeden Fall eine Bereicherung. Aber: Ich bin überzeugt, dass es auch diesbezüglich so etwas wie Biodiversität braucht. Für mich sind ein Landwirt, ein Maurer, ein Schreiner, ein Musiker oder ein Theatermensch gleichwertig. Wenn man in kleinen Orten arbeitet, ist diese Sicht wichtig. Nehmen wir das Beispiel Susch im Unterengadin. Ich zweifle nicht am Kunstsinn der Initiatorin des »Muzeum Susch«. Aber das Museum ist im Ort schon sehr dominant. Man assoziiert Susch heute sofort mit dem »Muzeum«. Leute, die mit Kunst und Kultur nichts anfangen können, stehen schnell abseits. Man stelle sich nun vor, eine Großgalerie würde hier in Soglio zwei Palazzi erwerben; das wäre schwierig. Solche Tendenzen machen mir Sorgen. Ich finde, man muss auch die kulturelle Biodiversität fördern. Ohne Kultur verarmen wir seelisch und intellektuell, aber nur mit Kultur ist es auch nicht getan. Fragt man etwa die Künstlerin Miriam Cahn, ob sie wegen der kulturellen Bedeutung des Bergells oder wegen Giacometti hier lebt, dann verneint sie. Und dies, obwohl Alberto Giacometti als Künstler für sie wichtig ist. Übrigens: Der Architekt Bruno Giacometti ist in meinen Augen ein wichtiger Bergeller Architekt. Aber mit so einem Mocken von einem Bruder war es für ihn schwierig, Anerkennung für seine Arbeit zu bekommen. Das Bergell ist auch architektonisch interessant. Man denke an die Bauten von Pierre Zoelly, Tita Carloni, Peppo Brivio oder an die Villa Garbald von Gottfried Semper.

Atelier Cahn in Stampa (Foto: © Ralph Feiner)

Ihr Projekt für die Künstlerin Miriam Cahn hat einen besonderen Stellenwert innerhalb Ihres Werks. Ich konnte sie kürzlich in ihrem Atelier besuchen. Ich fand nicht nur ihre Kunst, sondern auch den Bau bemerkenswert. Können Sie etwas über ihn erzählen?

Die Künstlerin wusste genau, wie groß der Bau sein musste. Im Gespräch mit ihr kristallisierte sich heraus, was sie braucht. Und zwar drei Räume: einen dunklen, einen zum Wohnen und einen zum Malen. Es war eine sehr interessante und bereichernde Zusammenarbeit. Der Bau ist inzwischen abgeschlossen, aber wir diskutieren immer noch sehr gerne über Architektur. Es ist ein Glück, Auftraggeber zu haben, die mitdiskutieren. Überhaupt hatte ich fast immer Glück mit meinen Bauherrschaften. 

Eine spezielle Aufgabe war das Haus Walther in Promontogno. An diesem Umbau haben Sie seit 1982 gearbeitet. Man könnte so ein Projekt als Architektur der Fürsorge bezeichnen. 

Das sind sehr gute Freunde von uns. Ivana Semadeni, die Frau von Gian Andrea Walther, hat übrigens den Betrieb im Palazzo Castelmur in den letzten Jahren umgekrempelt. Sie hat dort unter anderem eine Ausstellung mit Werken von Miriam Cahn organisiert. Das Haus schien wie gemacht für ihre Bilder. 

Noch etwas anderes ist die Sala polivalente (Mehrzweckhalle) in Bondo, ein öffentlicher Bau mit unterschiedlichen Funktionen. Das war Ihr erster Auftrag außerhalb von Soglio.

Das Bauwerk kommt mir vor wie ein Schiff im Tal. Zurzeit arbeiten wir am Konzept für die Sanierung, eine aufwendige Sache. Der Bau und die ganze Umgebung waren betroffen vom Bergsturz im Jahr 2017. 

Wo sehen Sie weitere Gefahren für das Tal? 

Das größte Risiko ist wie vorhin angedeutet die Monokultur. Man unterschätzt dieses Problem. Es kommt eben nicht automatisch gut. 

Stall und Meierei in Isola (Foto: © Raymond Meier)

Wie fördern Sie das Bewusstsein für Baukultur? 

Je nach Bauaufgabe ist der Ansatz für mich ein völlig anderer. Ein Einfamilienhaus ist eine Sache, aber es gibt auch Aufgaben, die besonders wichtig sind für ein Tal. Dazu gehört für mich etwa die Sanierung des Friedhofs von Soglio. Auf so ein schwieriges Thema muss man sich ganz bewusst einlassen. Ich habe dort kleine Maßnahmen vorgenommen, darunter zwei Brunnen aus schwarzem Beton. Auf ihrem Grund stehen die Namen der Verstorbenen auf Bronzeplaketten. Ich habe die Farbe Schwarz gewählt, weil sich dadurch im Wasser der Himmel spiegelt. Es hat viel ausgemacht, als ich den Leuten diese Gedanken erklärt habe. 

Können Sie zu einem aktuellen Projekt etwas sagen?

Wir arbeiten gerade am Umbau eines achtstöckigen Hauses für eine einheimische Familie mitten in Vicosoprano. Das Projekt ist ausgearbeitet. Zuoberst kommt die Küche, dann die Stube, darunter die Schlafetagen. Bei acht Stockwerken braucht es einen Lift. Man weiß nicht ganz genau, aus welcher Zeit das Gebäude stammt. Der Turm ist schützenswert, aber nicht geschützt. 

Ein weiteres Projekt, das schon länger in Bearbeitung ist, befindet sich in Deutschland auf der Bodenseeinsel Reichenau. Dort haben wir gerade kürzlich die Baubewilligung bekommen.

Zum Schluss möchte ich auf Ihre Lehrtätigkeit zu sprechen kommen. Sie haben unter anderem mehrere Semester in Chur an der Fachhochschule Graubünden unterrichtet. Was hat Ihnen das bedeutet?

Ich habe das Unterrichten sehr genossen. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass ich Autodidakt bin. Mir hat die Schule gefehlt. So konnte ich das immerhin als Dozent erleben. Ich habe auch immer gerne Praktikantinnen und Praktikanten. Sie sind wertvoll für das Büro. Ich mag den Austausch mit der jüngeren Generation.

 

Armando Ruinelli Architetti. Progetti 1982–2022. Leggere il tempo

Armando Ruinelli Architetti. Progetti 1982–2022. Leggere il tempo
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