Fritz Neumeyers neuestes Mies-Buch heißt „Ausgebootet: Mies van der Rohe und das Bauhaus 1933“

Ausgebootet

Ulf Meyer
17. März 2021
Ludwig Mies in seinem Apartment in Chicago, 1964 (Foto: © Werner Blaser, Basel)

Dieser Frage widmet das Berliner „Mies van der Rohe-Haus“ den 5. Band seiner Schriftenreihe. Der Autor, der ehemalige Architekturtheorie-Professor Neumeyer, ist nicht nur ein ausgewiesener Mies-Kenner. Er versteht es auch, den geistesgeschichtlichen Horizont, vor dem sich spannende Architekturgeschichte der frühen 1930er-Jahre in Deutschland abspielte, kenntnisreich, lebendig und verständlich aufzuzeigen. 

Als das Bauhaus in Dessau geschlossen wurde, wandelte Mies es in eine Privatschule in Berlin um. Als die Nationalsozialisten das Berliner Bauhaus im April 1933 versiegelten, führte Mies den Unterricht im Freien fort und veranstaltete Bootsausflüge zu Bauten von Schinkel und Gilly. Mies' Bauhaus existierte weiter, jedoch „ohne Dach und ohne Wände“. Neumeyers Buch würdigt Mies‘ Erfindungsreichtum in der Unterrichtsgestaltung und stellt das Landhaus Lemke, in dem sich die Berliner Stiftung befindet, in den Kontext der Zeitgeschichte. Die Verbindung von sparsamem Bauen und hohem Anspruch an Funktionalität und Schönheit versinnbildlicht es exemplarisch.

Mies legte am Bauhaus den Schwerpunkt der Entwurfsarbeit auf jene Aufgabe, die ihn am meisten beschäftigte: Das Einfamilienhaus. Es war für Mies ein Lackmustest für die neue Baukunst. Das moderne Haus war keine „Koordination separater Wohnräume“, sondern ein Kontinuum. Seine Vorstellung vom neuen Wohnideal hat Mies auf dem Niveau vom Haus Tugendhat kein zweites Mal realisieren können. Es war Zelle und Welt zugleich, Zentrum der Geborgenheit ebenso wie ein sich der Welt öffnender Ort. Das Haus für ein kinderloses Ehepaar war die letzte Arbeit, mit der er seinen Traum vom modernen Wohnen realisieren konnte, der 1924 mit dem Entwurf zu einem Landhaus in Backstein erstmals auf dem Papier Gestalt angenommen hatte. Haus Lemke demonstriert, wie das Geheimnis der „inneren Weite“ Miesscher Räume vom Außenbezug abhängt. Das Haus ist L-förmig, streckt seine Flügel wie Arme in den Außenraum und definiert einen Raum, in den sich die Wohnräume verlängern. Beim „halben Atrium-Haus“ halten sich Abgeschirmtheit und Weite die Waage. Im April 1933 zog das Ehepaar Lemke in den Ziegelbau, das erste low-budget-Wohnhauses von Mies, ein. Aber auch nach Paretz, zum von David und Friedrich Gilly erbauten Landschloss führte Mies seine Studenten. Paretz führte Mies‘ Studenten vor Augen, dass das Vergangene nicht so belanglos war und das Neue nicht so neu, wie es manche Modernisten glauben machen wollten.

Im August 1933 entschieden sich Mies und Lilly Reich, den September und Oktober im Tessin zu verbringen. In Pura bei Lugano hatte Mies ein Bauernhaus gemietet, wo Privatunterricht für sechs Studenten stattfand. Wanderungen führten in Bergdörfer, von denen Mies begeistert war, weil sie natürlich in die Landschaft eingebettet waren. Mies entwickelte ein aus der Erde herauswachsendes und in der Landschaft verwurzeltes Haus mit Bruchstein-Sockel, das als Haus in den Bergen mit der Landschaft verschmolz. Die Außenansichten verrieten nichts über das Haus, es schien selbst mehr Berg als Haus zu sein. 
Anfang November kehrte das Rest-Bauhaus nach Berlin zurück. Im Sommer 1935 beendete Mies seine Lehrtätigkeit. 1936 erhielt er aus den USA das Angebot, Dekan des Armour Institute in Chicago zu übernehmen – am 20. August 1937 traf Mies in New York ein.

Schriftenreihe des Mies van der Rohe Hauses Band 5

Schriftenreihe des Mies van der Rohe Hauses Band 5
Wita Noack (Hg.)
Deutsch/Englisch

134 x 210 mm
256 Seiten
85 Illustrationen
Softcover
ISBN 9783947045198
form + zweck Verlag

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