Kreuzberger Mischung

Ulf Meyer
20. März 2019
Das Aqua-Butzke-Werk (links) wurde aufgestockt und die Kriegswunden wurden mit einem neuen Bürotrakt geschlossen (rechts) (Bild: M. Eberle)

Der Berliner Stadtteil Kreuzberg ist in die Geschichte des Städtebaus als Geburtsort der „Kreuzberger Mischung“ eingegangen: Während in den Blockrandbebauungen des 19. Jahrhunderts im Vorderhaus und Seitenflügel traditionell gewohnt wurde, dienten Hinterhaus und Hof dem Gewerbe. Bei der Kreuzberger Mischung ist die Dichte hoch, die Wege sind kurz, Urbanität und soziale Mischung sind garantiert. Genau da will man heute im modernen Städtebau wieder hin – angesichts der leisen und emissionsfreien Arbeitsplätze, an denen heute volkswirtschaftlicher Nutzen in Start-up-Unternehmen und im Dienstleistungssektor geschöpft wird, ist die „Kreuzberger Mischung“ von Wohnen und Arbeiten erstrebenswerter als jemals zuvor. 

Im Zweiten Weltkrieg war ihr der Garaus gemacht worden. Als die US-Luftwaffe ihre Bombenteppiche über Berlin regnen ließ, versuchten die Militärstrategen zunächst speziell rüstungsrelevante Industrien zu treffen, die teils fein in die Berliner Hinterhof-Wirtschaft in Nord-Kreuzberg verwoben waren. Speziell die gemischten Quartiere um den Moritz- und Oranienplatz waren nach dem Zweiten Weltkrieg nichts weiter als schmauchende Ruinen. Ein amerikanischer Luftangriff hatte am 3. Februar 1945 das nördliche, proletarische Kreuzberg völlig zerstört.

Die trapezförmigen Fenster markieren den neuen Flügel zur Ritterstraße hin (Bild: M. Eberle)
Im Dornröschenschlaf

Als dann auch noch der Bau der Berliner Mauer 16 Jahre später Kreuzberg zu einer sozial-utopischen Aussteiger- und Einwanderer-Oase im Schatten der Grenze machte, wurden die besten Lagen in Nord-Kreuzberg lieblos mit belanglosen Sozialwohnungsbau-Klötzen verstellt, die heute dahinmodern und in ihrer städtebaulichen Ungelenkigkeit und architektonischen Tristesse kaum mehr zu rechtfertigen sind. Die links-alternativen Milieus und vor allem die Hausbesetzer-Szene sperrte sich gegen diese „Flächensanierung“ mit der städtebaulichen Keule und wiederentdeckte den Wert der Berliner Jahrhundertwende-Bebauung. In den 1980er-Jahren wurde gerettet, was an Kreuzberger Mischung noch zu retten war. Ökonomisch verfiel der Stadtteil und ganz Berlin allerdings in einen Dornröschenschlaf, aus dem die Kapitale erst sehr langsam wieder erwacht. Der benachbarte bald stark türkisch geprägte Wrangelkiez wurde zum einkommensschwächsten Stadtteil Berlins. Während im Zeitungsviertel bereits ein „Kreativquartier“ rund um das Jüdische Museum anfängt zu blühen, wartet der Nachbarkiez im Osten noch darauf, wachgeküsst zu werden.

Alternative Gentrifizierung

Die gelungene Vermischung von Wohnen und Gewerbe hat sich der Baublock an der Ritterstraße (1894 und 1898 in zwei Phasen von Georg Lewy gebaut) zum Ziel gesetzt. Der Hamburger Architekt Karsten Groot hat aus der ehemaligen „Armaturenfabrik Bernhard Joseph AG“, die 1926 mit der „Metallwaren- und Lampenfabrik F. Butzke“ zur „Butzke-Werke AG“ fusionierte, ein Kreuzberger Quartier gemacht, das beweist, dass Gentrifizierung etwas Positives sein kann: 

Hier verdrängt kein Unternehmensberatungsbüro eine alternative Kiez-Idylle, sondern hier werden im Gegenteil im Quartier geborene Institutionen gefeiert und gepflegt: Wo einst der erste Druckspüler der Welt erfunden und produziert wurde, hat heute die Hip-Hop-Tanzschule Flying Steps ihren sehr ansehnlichen Sitz. Das Tanzstudio ist nur der prominenteste Nutzer in einem Reigen aus Künstlern, Gründern und Unternehmern. 

Im Zweiten Weltkrieg war das Vorderhaus zerbombt worden, nur der hintere Riegel blieb erhalten. Bis 2010 wurde das Haus von Amir Abadi/Neoplan A.O. zu einem „Kreativzentrum“ umgebaut. Seit 2007 befindet sich in den ehemaligen Werkhallen der Club „Ritter Butzke“. Groot musste bei der zweiten Welle der Sanierung nun die offenen städtebaulichen Wunden mit neuen Seitenflügeln heilen, denen er mit trapezförmigen Fenstern einen wiedererkennbaren Ausdruck gegeben hat. Ein schwarzes Penthouse-Geschoss fasst alle Gebäudeflügel zusammen und bietet Arbeitsplätze mit Blick über die ganze Stadt. 

Als 1977 die Firma AQUA-Butzke-Werke genannt wurde, erhielt sie einen bunten Neubau entlang der Lobeck-Straße. Nach der Verlagerung der Produktion 1997 stand das Gebäude lange leer. Im Jahr 2014 kaufte die Gewerbesiedlungs-Gesellschaft das Gebäude und betreibt es seitdem unter dem Namen „AQUA Carré Berlin“. Der Produktionskomplex aus den 1970er-Jahren dient als Kunst- und Kulturareal für Architekten, Designer, Softwareentwickler, Medien- und Kommunikationsunternehmen, Tischler, Künstler, Musiker, ein Fitness- und ein Tonstudio. Architekt Karsten Groot hat dem Haus zwei neue Geschosse in eleganter Aluminium-Fassade aufgesattelt, die weitere 5000 m2 Atelier- und Werkstattflächen bieten. Kleinteilige, günstige Flächen, die als Büros, Werkstätten, Studios und Ateliers genutzt werden, komplett mit Glasfasernetz und „Hofküche“.

Ein schwarzes Penthouse fasst alle Bauteile visuell zusammen (Bild: Ulrich D. Schwarz)
Initialzündung für ein Quartier

Der Funke zündet: Direkt neben dem Aqua-Areal werden derzeit zwei große Neubauten an der Ritterstraße gebaut. Auf dem Gelände der ehemaligen Werkstatthallen einer Autoverleihfirma bauen Kada Wittfeld Architekten das „The Shelf Berlin“ genannte „Regal“. Es soll ab 2020 „Büros, Einzelhandel, Gewerbe und Gastronomie“ enthalten. Die Fassaden werden mit Moos bepflanzt, um einen sanften Übergang zu den Prinzessinnengärten und dem Aufbau-Haus am Moritzplatz zu garantieren. 

Das Viertel Kreuzberg „SO 36“, das vor dem Zweiten Weltkrieg doppelt so viele Einwohner hatte wie heute, ist dabei, seine günstige Lage als Nachbar von Mitte wieder zu entdecken und seine seit dem Zweiten Weltkrieg währende wirtschaftliche Amnesie zu überwinden. Heute sucht die party-freudige „Generation easyjet“ ihre Selfie-Motive im bröckelnden Hippie-Bezirk. 

Es ist, als würde das nördliche Kreuzberg aus einer Art Kater aufwachen. Während die Kreuzberger Friedrichstadt schon zu Zeiten der Internationalen Bauausstellung (IBA) mit bizarren postmodernen Gebäuden aus aller Welt versehen wurde, mausert sich der Moritzplatz zu einem Zentrum der Kreativwirtschaft. Dabei wird jede Veränderung im Milieu zunächst argwöhnisch vor allem als Gefahr wahrgenommen und Neubauten wird in Kreuzberg traditionell erstmal die Scheibe eingeschmissen. Nach dieser „Initiation“ geht das Kreuzberger Leben aber weiter. Der Bezirk ist schließlich das wahre Zentrum der Hauptstadt: Seit 1997 markiert ein Gedenkstein den geometrischen Mittelpunkt der Stadt, etwa hundert Meter entfernt vom neuen „Aqua-Butzke“-Areal.

Vorgestelltes Projekt

Sieveke Weber Architekten BDA

Scheune für Lucia und Samuel

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