Wer war Karl Lagerfeld? William Middletons faszinierendes Porträt

Nadia Bendinelli | 28. März 2025
Foto: © Nadia Bendinelli

Unzählige Interviews, Berichte der Boulevardpresse und Fernsehauftritte haben das Bild der Öffentlichkeit von Karl Lagerfeld geformt: ein genialer Gestalter, doch für seine bissigen Kommentare gefürchtet. Der Modedesigner selbst meinte dazu: »Die Figur, die Sie in den Medien sehen, ist eine Marionette. Aber ich bin derjenige, der die Fäden zieht«. Der Journalist William Middleton ist der Sache auf den Grund gegangen. In seiner Biografie zeichnet er mit vielen Geschichten und Anekdoten einen komplexen, faszinierenden Charakter nach.

Einschüchternde Radikalität: »Es ist nie zu spät für ein neues Leben«

Die Zeit um die Jahrtausendwende markiert einen Wendepunkt in Karl Lagerfelds Leben und trug viel zu seinem Ruf bei. »Herr Lagerfeld, ob er nun gelangweilt ist oder sich ausruht, muss den Staub von den Knochen schütteln«, spottete die New York Times. Nicht nur die Modebranche fragte sich, ob es dem Designer noch ein zweites Mal gelingen würde, Chanel aus der Krise zu führen. Denn nicht nur das Modehaus steckte in einer Sackgasse: Ende der 1990er-Jahre hatten Lagerfelds Kollektionen nicht mehr den gewohnten Erfolg, er war dicker denn je und noch immer in der Trauer um seinen Lebenspartner Jacques de Bascher gefangen, der 1989 nach 18 Jahren Beziehung verstorben war. Dass Lagerfeld sich tatsächlich »ausruhte«, wie ihm die New York Times unterstellte, ist also höchst unwahrscheinlich – zumal er zeitlebens ein harter Arbeiter war. Trotzdem musste sich etwas ändern. Und da Lagerfeld kein Mann halber Sachen war, krempelte er sein Leben radikal um. Zuerst verkaufte er alles, was mit der Vergangenheit zu tun hatte, dann nahm er 40 Kilo ab und sortierte langjährige Kollegen und vermeintliche Freunde aus. Es gehörte zwar zu seinem Charakter, sich ständig zu verändern und weiterzuentwickeln, doch besonders die abrupte Beendigung langjähriger Beziehungen machte Schlagzeilen. Lagerfeld wusste das zu nutzen. »Die Geschichten von den Brüchen verhalfen ihm zu einem noch einschüchternden Image, sie verbargen die weichere, empfindsamere Seite seiner Persönlichkeit ebenso effektiv wie die dunkle Sonnenbrille«, schreibt William Middleton. »Sie waren auch ein gutes Mittel, damit alle stets auf dem Quivive blieben – passen Sie auf, sonst werden Sie schockgefrostet.« Lagerfeld selbst formulierte es so: »Ich weiß, Rache ist hässlich und unschön, aber wenn jemand mir etwas angetan hat, sehe ich keinen Grund, weshalb ich nicht ebenso reagieren sollte. Andere können die Sache schon längst vergessen haben, da kann ich ihnen den Stuhl noch wegziehen – auch nach zehn Jahren noch.«

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Mit dem Gewichtsverlust gewann Lagerfeld sein Selbstvertrauen zurück: Er war noch Herr der Lage, was ihm die Sicherheit gab, auch als Designer zu alter Stärke zurückfinden zu können. Im Alter von fast 70 Jahren startete er mit kreativen und teils kühnen Ideen so richtig durch. Er wagte eine Zusammenarbeit mit H&M und verband vermeintlich Gegensätzliches: Haute Couture und Massenprodukte. Das Projekt hätte leicht in einem Fiasko enden können, doch es machte Lagerfeld auch außerhalb der Modeszene zur Berühmtheit.

2001 begann sich der Buchliebhaber neben der Fotografie und dem Modedesign einem dritten Geschäftsfeld zu widmen und wurde Verleger. »Ich bin Fotograf. Ich bin Buchverleger. Ich bin Modedesigner«, pflegte er fortan selbstbewusst zu sagen. Doch Furore machte er vor allem in seinem Kernmetier: Seine Chanel-Modeschauen blieben für ihre beispiellosen, beeindruckenden Inszenierungen in Erinnerung, die Chinesische Mauer wurde zur Bühne für eine Fendi-Schau, und mit der Kollektion Coco Cuba hielten sogar Kapitalismus, Luxus und Konsum im kommunistischen Havanna Einzug.

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Die verborgene Seite

William Middleton hat zahlreiche Bekannte, Freunde und Mitarbeitende Lagerfelds für seine Biografie interviewt. Dabei kamen ganz andere, bisher kaum bekannte Charakterzüge zum Vorschein. Obwohl er nicht über seine Gefühle sprach, konnte Lagerfeld einfühlsam auf Befindlichkeiten anderer eingehen. Auch war er Vertrauten und Freunden gegenüber großzügig und ausgesprochen herzlich. Die Schneiderin Anita Briey, zuerst stellvertretende Leiterin des Ateliers bei Chloé, später Atelierchefin beim Label Karl Lagerfeld, arbeitete 40 Jahre lang mit ihm zusammen. Sie berichtet über seine Freundlichkeit und seinen Respekt gegenüber den Näherinnen bei Chloé: »Wir waren ganz verrückt nach ihm.« Solch tiefe Freundschaften waren keine Einzelfälle. Die Schauspielerin Diane Kruger erzählt im Buch eine Reihe von Anekdoten, die zeigen, wie der Freund ihr immer wieder zur Seite stand und sie unterstützte. Mal mit seinem großen Wissen über das 18. Jahrhundert, als sie sich auf eine Rolle vorbereitete, mal einfach mit einem netten Gespräch, als sie ihn im Atelier besuchte. 2007 nahm sie Lagerfeld als Begleitung zur Abschlussfeier des Cannes-Filmfestivals mit. »Ich war ziemlich gestresst, weil ich Moderatorin war. Ich bin ganz still geworden, weil ich mich konzentrieren wollte. Und er griff einfach nach meiner Hand, hielt sie fest und sagte auf Deutsch: ›Schau, wie weit du gekommen bist – ich bin stolz auf dich.‹ Er sagte es so lieb – es war unverkennbar, dass er mir Mut machen wollte. Und dann sagte er: ›Und schau dir uns beide an: zwei kleine Niemands aus Deutschland, und hier fahren wir zum Festival von Cannes – ist es nicht unglaublich?‹«

Nachdem Middleton Lagerfeld als Journalist oft genug getroffen hatte, um, wie er schreibt, »ein Gefühl für seine Persönlichkeit außerhalb des Rampenlichts zu bekommen«, sprach er mit dem Designer über seine Beobachtungen: »Ich sagte, ich hätte noch nie einen Menschen kennengelernt, der sich öffentlich so schroff, so einschüchternd, ja regelrecht unangenehm gab, der aber, wenn man ihn näher kennenlernte, sehr herzlich und sogar anrührend sein konnte.« Die Antwort: »Besser als umgekehrt, non?«

Inspirierende Charakterstudie

Das Buch leistet mehr als nur Lagerfelds widersprüchliche Charakterzüge zu dokumentieren. Auch der Kontext wird dargestellt: Kleine Exkurse in die Geschichte, in die Literatur- oder die Kunstwelt und natürlich in die Modebranche helfen zu verstehen, wie sich Lagerfelds bemerkenswerte Persönlichkeit entwickelt hat. Zu sagen, dass man ihn nach der Lektüre kenne, ist trotzdem zu viel versprochen. Die Grenzen zwischen Kunstfigur und Privatperson sind fließend, und beide Seiten sind gleichermaßen präsent. Lagerfelds Charme liegt wohl auch im Widerspruch. 

Die Lektüre macht deutlich, wie viel Arbeit, Wissen und Bildung hinter seinem Erfolg steckte. In diesem Punkt war er grundlegend anders als die meisten seiner Kollegen – oder richtiger: als die meisten Menschen. Vielfältig interessiert, entging ihn kaum eine neue Kunstbewegung oder ein neues Musikstück. Trotz guter Geschichtskenntnisse, großer Belesenheit und bemerkenswertem Wissen über das 18. Jahrhundert lebte er im Hier und Jetzt – Nostalgie war ihm zuwider. Karl Lagerfeld lehrt uns, dass neben großem Talent auch sehr viel Arbeit und Lernbereitschaft erforderlich sind, um über Jahre oder sogar Jahrzehnte erfolgreich zu bleiben. In dieser Hinsicht ist der produktivste Modeschöpfer, den die Welt je gesehen hat, ein Vorbild. William Middletons Biografie inspiriert, erstaunt, bringt mit Lagerfelds scharfem Humor zum Lachen und wird bestimmt nicht nur Modeinteressierten gefallen.

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