Weitsicht: Zwei Türme von Álvaro Siza

Eduard Kögel
31. Mai 2023
Álvaro Siza in der Lobby des 611W56-Tower in Manhattan © Slideshow

In seinem langen Architektenleben hat Siza neben vielen anderen Bauten auch eine ganze Reihe von Türmen entworfen, von denen einige zur Ausführung kamen. Die jetzt in der von António Choupina kuratierten Ausstellung TWO TOWERS 90 Years Álvaro Siza gezeigten zwei Turmprojekte erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen und sind auch in ihrer Erscheinung Antipoden. In Manhattan steht ein zwischen 2014 und 2022 entstandenes 137 Meter hohes, luxuriöses und sehr schmales Wohnhochhaus, das mit einem zwischen 2018 und 2021 in der portugiesischen Landschaft gebauten 16 Meter hohen Aussichts- und Wachturm ein ungleiches Paar bildet.

Die ersten Referenzen die mir zu den beiden Türmen einfielen, sind für das Hochhaus in Manhattan die Beschreibung des Downtown Athletic Club in Delirious New York von Rem Koolhaas und für den Wachturm der Roman Gammler, Zen und hohe Berge (original The Dharma Bums) des Beatnik Jack Kerouac, in dem er seinen Aufenthalt als Feuerbeobachter auf dem Desolation Peak im US-Bundesstaat Washington verarbeitete.

611W56-Tower (Foto © João Morgado)
611W56-Tower (Foto © João Morgado)
611W56-Tower (Foto © João Morgado)
Wohnturm in Manhattan

Der 37-geschossige Wohnturm in Manhattan ist das erste Gebäude von Siza in den USA. Es liegt einen Block vom Hudson River entfernt zwischen dem Riverside Park South und dem Central Park, an der Ecke West 56th Street und Eleventh Avenue, in der Nachbarschaft Hell’s Kitchen (auch Clinton oder Midtown West). Das langgestreckte rechteckige Grundstück ist zum Bestandsbau an der Eleventh Avenue schräg angeschnitten. Deshalb verjüngt sich das Volumen in Richtung des Flusses, was den Turm in der Fernsicht deutlich schlanker erscheinen lässt. Zur 56th Street hin passt sich ein bis zu acht-geschossiges Volumen als Sockel geometrisch dem Grundstückszuschnitt an, aus dem sich etwas zurückgesetzt der eigentliche Turm herausschiebt. 

Der Sockel mit Turm beherbergt 80 Luxuswohnungen mit ein bis vier Zimmern sowie größere Maisonetten über zwei Etagen, die oben von einem großzügigen, zweigeschossigen Penthouse abgeschlossen werden. Die gleichförmig gerasterte Fassade reflektiert den städtebaulichen Raster Manhattans und lässt keine Rückschlüsse auf Wohneinheiten oder dahinterliegende Funktionen zu. Von den meisten Wohnungen haben die Bewohner einen grandiosen Blick über die Flusslandschaft auf der einen Seite und auf die Hochhauslandschaft von Midtown auf der anderen Seite. 

Zu den allen Bewohner zugänglichen Angeboten gehören ein räumlich geschlossener Patio mit Garten im zweiten Obergeschoss, eine Lounge mit diskreter Catering-Küche, ein Spielzimmer für Kinder, ein Medienraum mit Billardtisch, ein Fitnesscenter, Dampfbäder, ein Yogastudio sowie einen Raum für Boxsport. Zusätzlich stehen 18 Parkplätze für PKW zur Verfügung. Die Zusatzfunktionen lassen erkennen, dass heute in diesem Preissegment des Wohnens auch die körperliche Fitness und die Selbstoptimierung eine wichtige Rolle spielen. Die mit Finesse minimalistisch gestaltete Innenausstattung aus edlen Materialien entwarfen die New Yorker Innenarchitekten Gabellini Sheppard. 

Das äußere Erscheinungsbild wird stark durch den gleichförmigen Raster der Fensteröffnungen und die mit weißem Kalkstein verkleideten Fassade geprägt, die im städtebaulichen Umfeld trotz der bescheidenen Höhe prägnant in Erscheinung tritt. Die Steinplatten sind in doppeltem Fischgrätenmuster angebracht, die bei Streiflicht durch leichte Unregelmäßigkeiten ein plastisches Relief entstehen lassen. Die rückwärtige Fassade zum Innenbereich des Blocks ist fast vollständig mit den Kalksteinplatten geschlossen, die übergangslos auch die Technikräume als Abschluss des Turmes umschließen, und die damit die starke räumliche Präsenz unterstreichen. 

Aussichtsturm in Proença-a-Nova (Foto © João Morgado)
Aussichtsturm in Proença-a-Nova (Foto © João Morgado)
Architekt und Kurator António Choupina mit Architekt Álvaro Siza und einem Modell des Turms von Proença-a-Nova (Foto © Marc Dubois)
Wach- und Aussichtsturm in Portugal

Eher bescheiden erscheint neben dem Luxusturm im dicht gepackten Manhattan das zweite Projekt in der portugiesischen Landschaft: ein Wach- und Aussichtsturm im UNESCO-Geopark Naturtejo zwischen Lissabon und Porto im schwach besiedelten Kreis Proença-a-Nova, dessen Einwohnerzahl seit 1960 von 17.000 auf 7.000 gesunken ist und der deshalb nach Strategien sucht um mehr Bewohner anzuziehen. 

Der 16 Meter hohe Turm steht 616 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Gipfel der Bergkette Serra das Talhadas. Von hier lässt sich die weite Landschaft überblicken, um im Sommer Waldbrände frühzeitig erkennen zu können. Zudem dient der Turm als Wanderziel, von dem das Bergpanorama betrachtet werden kann. An derselben Stelle des Weges stand bereits ein Turm, der ersetzt werden musste. Inspiriert von der Verankerung des Betonfundaments im Felsen und wie sich daraus die Eisenstruktur der vorherigen Konstruktion abhob, entwickelte Siza den neuen Turm aus vier quadratischen, überhängenden Plattformen, die über zwei parallele Treppensysteme als Rundweg erschlossen sind. Die Essenz des Vorgängerbauwerkes prägte auch den neuen Entwurf, der drei für Besucher offene Ebenen, mit der etwas kleineren obersten Plattform mit Dach für die Überwachung der Landschaft übereinanderstapelt. 

Gestützt auf vier Stahlstützen und mit den überkragenden metallenen Plattformen ist der Wach- und Aussichtsturm ein filigranes Zeichen in der Landschaft, das aber selbst aus der Ferne nur zart in Erscheinung tritt. Bei der Gestaltung des Aussichtsturms reduzierte Siza die Architektur auf das Nötigste, um den Auftritt der grandiosen Landschaft zu überlassen.

Skizze »Two Towers« © Álvaro Siza
Skizze für eine Skulptur für den 611W56-Tower in Manhattan © Álvaro Siza
Skizze für den Turm in Proença-a-Nova © Álvaro Siza
Turmskizzen

Wie bei allen anderen Bauprojekten tastet sich Siza auch bei den beiden Türmen über viele Skizzen an die Aufgabe heran. Als extrem produktiver Zeichner denkt er mit dem Bleistift und schafft so Collagen, die den Diskurs und die Evolution der Projekte illustrieren. Siza nutzt das Skizzieren nicht nur als Arbeitsschritt um eine Konzeption auszuloten, sondern auch als Kommentar zum eigenen Entwurfsgedanken und zu baugeschichtlichen Referenzen. In diesem Arbeitsprozess geben die faszinierenden Skizzen Anhaltspunkte zu seinem Verständnis der Aufgabe, des Kontextes und zu seiner Annäherung an die finale Form. Sie dokumentieren zudem seine Suche, das handwerkliche Umkreisen des Resultats, aber auch die Rekapitulation der gebauten und gedachten Projekte von Kollegen, die in sehr dichten Skizzenblättern auch häufig Kommentare zum eigenen Tun enthalten. 

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, indem der Kurator António Choupina in einer Einleitung die Bedeutung von Türmen in Álvaro Sizas Werk erläutert. In kurzen Texten zu beiden Projekten gibt auch Siza einen Einblick in sein Denken. 
Die beiden Turmprojekte sind in der Ausstellung mit den ausdrucksstarken Skizzen, großen Fotografien und Modellen dargestellt. Dazu laufen Interviews auf Bildschirmen und es sind elegante Möbel ausgestellt, die Siza für den chinesischen Möbelhersteller und Aedes-Sponsor Camerich entworfen hat.

Sizas architektonische Arbeiten waren von Anfang an zwischen den lokalen Rahmenbedingungen und der Auseinandersetzung mit globalen Themen angesiedelt. Die beiden in der Ausstellung gezeigten Türme reflektieren das auf exemplarische Weise. Der eine in der Dichte von Manhattan, wo es sich subtil gegen die benachbarten, banalen Baumassen abzusetzen galt, der andere in einer fragilen Naturlandschaft, die in Szene gesetzt wurde, ohne mit dem Bauwerk dominant in Erscheinung zu treten. Während der eine dem Hedonismus der Großstadt eine Bühne bietet, setzt der andere auf die Naturerfahrung, wo Wind und Wetter die bestimmenden Faktoren bleiben. Hier schließt sich der Kreis zu Koolhaas‘ Delirious New York und zu Kerouac’s Gammlern auf den hohen Bergen.

TWO TOWERS
90 Jahre Álvaro Siza

Ausstellung: 27. Mai – 5. Juli 2023
Ausstellungsort: Aedes Architekturforum, Christinenstr. 18-19, 10119 Berlin
Öffnungszeiten: Mo, Sonn- und Feiertag 13–17 Uhr, Di–Fr 11–18.30 Uhr

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