Von der Gabel bis zum Rathaus

Ulf Meyer
4. November 2020
HEW-Zentrale, Hamburg 1969 (Foto: Hendrik Bohle)

Die kleine, aber ebenso elegant gestaltete wie präzise erdachte Schau trägt nicht nur zu einem neuen Blick auf die westdeutsche Nachkriegs-Moderne und deutsch-dänische Gemeinsamkeiten in Architektur und Städtebau bei, sondern beleuchtet auch ein Dilemma der Denkmalpflege hierzulande. Denn das Werk von Jacobsen, dem bekanntesten Gestalter Dänemarks im 20. Jahrhundert, wird viel zu sehr mit seinem Stuhl „Nummer 7“ assoziiert, dem wohl erfolgreichsten Möbeldesign der 1950er-Jahre. Jacobsens schwungvolle Design-Ikone schmückt in Deutschland und der Welt Hunderte von Cafés, Rathäusern und Seminarräumen. Jacobsens minimalistisch-funktionales Design gilt schon lange als zeitloser Klassiker der Moderne. Viel weniger bekannt und wertgeschätzt sind seine Bauwerke in Deutschland, die er zusammen mit Otto Weitling entwarf.

Atriumhäuser, Berlin 1957 (Foto: Hendrik Bohle)
Glasfoyer, Hannover 1966 (Foto: Hendrik Bohle)

Die Berliner Ausstellung, kuratiert von Hendrik Bohle und Jan Dimog, wirft nicht nur erstmalig ein interessantes Licht auf dieses Werk – vom eleganten Glas-Foyer in den Herrenhäuser Gärten in Hannover über die Atrium-Häuser im Berliner Hansaviertel und das Rathaus in Mainz bis zum Hamburger Christianeum. Auch das HEW-Hochhaus (heute Vattenfall) in der Hamburger „City Nord“, das Rathaus-Forum in Castrop-Rauxel und die Ferienanlage in Burgtiefe auf Fehmarn gehören zu diesem produktiven Abschnitt der deutsch-dänischen Architekturgeschichte.  

Sieben Projekte werden in der Ausstellung präsentiert, nur das Novo Nordisk-Gebäude in Mainz und das ehemalige IBM-Gebäude in Hamburg von 1974 (heute Tchibo-Sitz) fehlen. Jacobsens Gebäude zeigen auch, wie willig sich Deutschland nach den Verheerungen von Weltkrieg, Nationalsozialismus und Holocaust an gestalterischen Beispielen seiner westlichen und nördlichen Nachbarn orientierte. Speziell Skandinavien galt in den 1960er- und 70er-Jahren politisch – zumindest in sozialdemokratischen Milieus – als vorbildlich.

Christianeum, Hamburg 1971 (Foto: Jan Dimog)
Seebad Burgtiefe, Fehmarn 1973 (Foto: Jan Dimog)

Für die Schau haben die beiden Kuratoren mit Jacobsens ehemaligem Mitarbeiter Otto Weitling zusammengearbeitet, der heute 90 Jahre alt ist und einst mit Hans Dissing das Büro Dissing+Weitling gründete, das Jacobsens Entwürfe in den 1970er-Jahren ausführte. Neben dem Mainzer Rathaus, dem Bad auf Fehmarn und dem Hamburger Christianeum entwarf er auch die Dänische Botschaft in London nach dem Tod von Jacobsen 1971. Mit Dissing zusammen gestaltete er später das Gebäude der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und den Hauptsitz der irakischen Zentralbank in Bagdad. Hans Dissing (1926–1998) und Weitling waren leitende Angestellte im Büro Jacobsen.

Die Ausstellung im Felleshus in Berlin ist der Auftakt für eine Wanderausstellung, deren weitere Stationen die Insel Fehmarn, Mainz, Hannover, Castrop-Rauxel und Hamburg sein werden (bis Frühjahr 2022). Die Gebäude werden also in sich selbst ausgestellt. Was kurios klingen mag, ist absolut sinnvoll: Denn der Kontext stellt den Wert der Einzelwerke besonders heraus: Das Gros von Jacobsens Meisterwerken in Deutschland welkt dahin oder ist sogar vom Abriss bedroht. Beim 1973, modern gebauten Seebad auf der Ostseeinsel wurde schon ein Flügel abgerissen und dem HEW-Gebäude droht eine Entstellung durch Umbau, wenn der jetzige Nutzer, die Firma Vattenfall, aus dem Gebäude auszieht. Das Rathaus Mainz war als „Heranführung des Fußgängers aus der Innenstadt bis an den Rhein“ gedacht. Innenhof und Treppe in Richtung des Adenauerufers sind gesperrt. An einzelnen Stellen fehlen Fassadenplatten und die Dächer sind undicht. Seit 2019 wird das denkmalgeschützte Rathaus saniert.

Rathaus Mainz, 1973 (Foto: Hendrik Bohle)
Forum Castrop-Rauxel, 1976 (Foto: Jan Dimog)

Die Berliner „Gesamtkunstwerke“-Ausstellung stellt das architektonische Spätwerk auch anhand von Möbel-, Lampen- Armaturen- und Uhr-Entwürfen in den Zusammenhang mit Jacobsens Design-Talent über alle Maßstabs-Ebenen hinweg. Von der Gabel bis zum Rathaus, von klein bis groß bewies das Gestalter-Duo Jacobsen-Weitling sein Können. 

Alvar Aalto aus Finnland ist wohl der einzige nordische Architekt, der zeitgleich in der Bundesrepublik Deutschland mindestens ebenso aktiv und verehrt war wie sein dänischer Kollege Jacobsen. Es ist überfällig, dass nun im Rahmen des Deutsch-Dänischen Kulturellen Freundschaftsjahres 2020 beide Länder den Schatz dieses gemeinsamen Erbes wiederentdecken. Im Falle von Jacobsen und Weitling ist zu hoffen, dass durch ein Ende der intellektuellen auch ein Ende der physischen Vernachlässigung eingeläutet werden kann. Insofern ist die Schau ein willkommener Anstoß, dem im Sinne der Pflege des Erbes der Moderne viel Wirkung zu wünschen ist.

Ausstellungsansicht (Foto: Hendrik Bohle, thelink.berlin gesamtkunstwerke.eu)
Ausstellungsansicht (Foto: Jan Dimog, thelink.berlin gesamtkunstwerke.eu)
Gesamtkunstwerke - Arne Jacobsen und Otto Weitling in Deutschland

Ausstellung bis 10. Januar 2021 im Felleshus der Nordischen Botschaften, Rauchstraße 1 in Berlin Mo bis Fr 14-19 Uhr – Bitte beachten Sie: Das Felleshus und damit auch die Ausstellung ist bis Ende November geschlossen. Der Eintritt ist frei. Katalog bei ARNOLDSCHE Verlagsanstalt, 38,- Euro, deutsch und englisch, 248 Seiten, Info unter www.nordischebotschaften.org 

GESAMTKUNSTWERKE

GESAMTKUNSTWERKE
Hendrik Bohle und Jan Dimog

ISBN 9783897906112
Arnoldsche Verlag
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