Unvorstellbar – aber darstellbar

Oliver G. Hamm | 20. Juni 2025
Ludwig Meidner, »Menschenzug«, aus dem Zyklus »Massacres in Poland«, 1942–45, Kohlezeichnung, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main (© Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main, Foto: Herbert Fischer)

Zwischen 1939 und 1945 lebten etwa 230 Millionen Menschen in heute über 30 Ländern unter deutscher Besatzung. Sie waren vielfältigen Formen von Gewaltverbrechen ausgesetzt, darunter Deportation, Zwangsarbeit und Lagerhaft, Hunger, Mord und Völkermord. Um diesem besonders düsteren Teil deutscher und europäischer Geschichte mit zahlreichen weiteren Aspekten – etwa Raub und Kulturzerstörung – einen angemessenen Ort der Forschung, der Wissensvermittlung und auch des Gedenkens einzurichten, beschloss der Deutsche Bundestag im Oktober 2020 ein Dokumentationszentrum »Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung in Europa« (ZWBE) und beauftragte das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin mit dessen Realisierung. Noch aber gibt es keine Finanzierungszusage – von einem ständigen Ort für ein Okkupations-Museum (zwischenzeitliche Alternativbezeichnung) und einem konkreten Gestaltungsvorschlag mal ganz abgesehen …

Dabei hat das DHM, bei dem das Büro ZWBE des geplanten Dokumentationszentrums angesiedelt ist, bereits wesentliche Vorarbeiten geleistet. Etwa ein gut dokumentiertes Symposium »Europa und Deutschland 1939–1945. Gewalt im Museum« im März 2022, auf dem eine bis 23. November geöffnete Schau aufbaut, die sechs Ausstellungen in den Jahren 1945 bis 1948 zur NS-Besatzung in Europa Revue passieren lässt. Mit rund 360 Exponaten, darunter 86 Originalobjekten, vermittelt sie ein vielschichtiges Bild über frühe Dokumentationen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die seinerzeit in London, Paris, Warschau, Liberec und Bergen-Belsen aufbereitet wurden – aus der Perspektive der jeweils unterschiedlichen nationalen Besatzungsszenarien in Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei, aus der Lagerbefreiungsperspektive britischer Soldaten und aus der Sicht jüdischer Displaced Persons, die im DP-Camp Bergen-Belsen oft jahrelang auf ihre ersehnte Ausreise ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina warten mussten.

Besucherinnen und Besucher vor dem Eingang zur Ausstellung »Crimes hitlériens« (Hitlerische Verbrechen) im Grand Palais, Paris, 1945 (© Service historique de la Défense)

Bereits Anfang Mai 1945 – wenige Tage vor der deutschen Kapitulation – wurden in London und Warschau zwei erste bedeutende Ausstellungen eröffnet, im Juni 1945 in Paris eine dritte. Sie zogen jeweils mehrere Hunderttausend Besucher an und wurden nach ihren Premieren auch an zahlreichen anderen Orten in Europa (die Warschauer Ausstellung zudem in New York) gezeigt. Die Londoner Schau »The Horror Camps« im Lesesaal der Tageszeitung Daily Express basierte vor allem auf großformatigen Fotos von Konzentrationslagern, die kurz zuvor von den Westalliierten befreit worden waren (etwa das am 15. April 1945 von britischen Truppen befreite KZ Bergen-Belsen). Erste Berichte und Fotos von Konzentrationslagern und vom Massenmord an Juden sowie Sinti und Roma waren den Alliierten zwar bereits 1942 bekannt, doch lehnten es die Regierungen Großbritanniens und der USA damals ab, diese zu veröffentlichen – teils aus Zweifel an der Echtheit, aber auch »aufgrund der antisemitischen Atmosphäre im eigenen Land«, wie es in der DHM-Ausstellung heißt. Die in London und anschließend an anderen Orten in Großbritannien gezeigte Ausstellung lockte insgesamt rund 700'000 Besucher an, die größtenteils schweigend und schockiert an den Aufnahmen einer Film- und Fotografieeinheit der britischen Armee (AFPU) vorüberzogen. Die Fotos zeigten ermordete KZ-Insassen, ausgemergelte Überlebende und auch einzelne NS-Täter.

Rekonstruktion einer Zelle des Gestapo-Gefängnisses Theresienstadt im »Památník nacistického barbarství« (Gedenkstätte der Nazi-Barbarei), Liberec, 1946 (© Státní okresní archiv LiberecDas Foto zeigt die Rekonstruktion)

Die Pariser Schau im Grand Palais trug den Titel »Crimes hitlériens« (Hitlerische Verbrechen). René Herbst gestaltete sie mithilfe einfacher Metallgerüste als Träger von 150 Ausstellungstafeln, von denen ganze sechs den Juden gewidmet waren (in London war überhaupt nicht darauf hingewiesen worden, dass die meisten KZ-Insassen jüdisch waren). Eine der 14 Ausstellungssektionen beschäftigte sich mit der Kollaboration von Franzosen, in einem Kinosaal wurde der Film »Les camps de la mort« (Die Todeslager) gezeigt. Den Abschluss bildete ein Diorama mit Originalobjekten von Stätten der NS-Gräueltaten, das in der DHM-Ausstellung als kleinformatige Rekonstruktion mit Fotos etwa eines Viehwaggons, einer Gemeinschaftszelle, einer Folterkammer und eines Krematoriumsofens zu sehen ist. Die originale Ausstellung hatte über eine Million Besucher in vielen europäischen Städten (darunter auch fünf in der französischen Besatzungszone in Südwestdeutschland), davon fast die Hälfte in Paris.

Während der deutschen Besatzung beschädigte Kunstwerke im Nationalmuseum in Warschau, 1945 (© Muzeum Narodowe w Warszawie)

Warschau ist im DHM gleich mit zwei Ausstellungen vertreten: »Warszawa oskarża« (Warschau klagt an), ab 3. Mai 1945 im Nationalmuseum zu sehen, dokumentierte sowohl die Zerstörung des kulturellen Erbes in Warschau – insbesondere im Nationalmuseum und im Königlichen Schloss – als auch Pläne für den Wiederaufbau der weitgehend zerstörten polnischen Hauptstadt. Zerschnittene Gemälde, verschmorte Skulpturen, geborstene Architekturfragmente, aber auch leere Bilderrahmen in bewusst chaotischer Anordnung visualisierten den Vandalismus und die Plünderungen der Deutschen. Auch weil jüdische Objekte hier nur eine untergeordnete Rolle spielten, eröffnete am 18. April 1948, am fünften Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes, im Jüdischen Historischen Institut eine weitere – jiddisch und polnisch betitelte – Ausstellung (deutsch: Martyrium und Kampf), die den Holocaust, den nur rund zehn Prozent der einst über drei Millionen polnischen Jüdinnen und Juden überlebt hatten, und den jüdischen Widerstand thematisierte. Sie präsentierte Kunstwerke und Teile des Geheimarchivs, die im Ghetto entstanden waren, Dokumente von Ermordeten, Urnen mit Asche aus verschiedenen NS-Vernichtungslagern, Fotos und Dokumente deutscher Täter sowie Medaillen für jüdische Widerstandskämpfer – und das großformatige Modell eines Bunkers aus dem Ghetto Łódź, in dem die Kommandeure der Jüdischen Kampforganisation ihren Sitz hatten.

Walter Preisser, Blatt aus einer 12-teiligen Holzschnitt-Serie, 1947, Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf (© Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf)

»Památník nacistického barbarství« (Gedenkstätte der Nazi-Barbarei) betitelt war eine im September 1946 eröffnete und erst 1964 geschlossene Ausstellung in einer Villa am Rande von Liberec, die ursprünglich in jüdischem Besitz war und während der Besatzung als Wohnsitz von Konrad Henlein, dem Gauleiter des Sudetenlands, diente. Nachbauten einer Zelle des Gestapo-Gefängnisses in der Kleinen Festung Theresienstadt, einer Hinrichtungskammer im Prager Gefängnis Pankrác sowie – im Außenbereich – einer Gefängnismauer mit Wachturm und Galgen waren bewusst darauf angelegt worden, bei Besuchern heftige Emotionen hervorzurufen. Deutsche, die seinerzeit in Internierungslagern auf ihre Abschiebung warteten, wurden verpflichtet, die Gedenkstätte zu besuchen. 

Einen gänzlich anderen Charakter hatte die im Juli 1947 eröffnete Ausstellung »Undzer veg in der frayheyt« (Unser Weg in die Freiheit) im Festsaal des Rundhauses im jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen, einer ehemaligen Wehrmachtskaserne nahe dem Konzentrationslagerareal. Sie schlug den Bogen von den Spuren jüdischen Lebens in Niedersachsen über die Schrecken der jüngsten Vergangenheit – versinnbildlicht unter anderem durch ein großes Modell eines Konzentrationslagers und durch zwölf Holzschnitte des früheren Lagerhäftlings Walter Preisser – bis zur damaligen jüdischen Gegenwart etwa in Lübeck und dem Sehnsuchtsziel Palästina in einer von vielen Displaced Persons erhofften nahen Zukunft – am Ende ihres langen Weges in die Freiheit.

Ausstellung »Undzer veg in der frayheyt«, DP-Camp Bergen-Belsen, 1945 (© Yad Vashem Photo Collection)

Die Schau »Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa, 1945–1948« ist bis zum 23. November im Deutschen Historischen Museum (Zugang über den Pei-Bau, Hinter dem Gießhaus 5, 10117 Berlin) zu sehen. Das Museum ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Begleitband zur Ausstellung (264 Seiten mit 115 Abbildungen) kostet 28 Euro. Weitere Informationen

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