Stadtraum auch mal nicht bebauen

Oliver G. Hamm | 18. April 2025
Gutiérrez-delaFuente Arquitectos in Zusammenarbeit mit TallerDe2 Arquitectura und SelbWERK: Haus der Tagesmütter, Selb (2008–2012) (Foto: © Feig Fotodesign)

Wie gelangt ein junges Architekturbüro an Aufträge – zumal im Ausland? Natürlich ist es immer von Vorteil, auf die Referenz einer jahrelangen Mitarbeit bei einem möglichst renommierten Architekten verweisen zu können, ehe überhaupt ein eigenes Büro gegründet, Wettbewerbe geschrubbt und nach ersten Erfolgen ein berufliches Netzwerk gesponnen werden kann, um das eigene Betätigungsfeld beständig auszuweiten. So war und ist es auch bei Natalia Gutiérrez und Julio de la Fuente, die nach ihrem Studium in Madrid bei Jean Nouvel in Paris erste praktische Erfahrungen sammelten, 2006 ihr gemeinsames Büro in der spanischen Hauptstadt eröffneten und gleich im Jahr darauf bei Europan 9, einem Wettbewerb für junge Architekten, mit ihrem Projekt einer »Acupuncture Therapy« (gemeinsam mit TallerDe2 Arquitectura) im oberfränkischen Selb erfolgreich waren – und, in Deutschland keineswegs selbstverständlich, als junge und zudem ausländische Architekten auch direkt selbst bauen konnten, in Selb sogar mehrfach nach der ersten gelungenen Intervention und sehr bald dann auch in anderen europäischen Städten und Ländern.

»We learned, together with Europan, how to work abroad«, wird Julio de la Fuente, seit 2013 Mitglied des Technischen Komitees von Europan Europe, auf der Website dieser bedeutenden Institution zitiert. Den Werdegang des seit vielen Jahren vor allem in Deutschland und in Spanien, aber auch in Großbritannien, in Belgien und in der Schweiz tätigen Büros und vor allem dessen thematisch breit angelegtes Werk, das oft mit verschiedenen Kooperationspartnern entsteht, dokumentiert derzeit eine Ausstellung im Berliner Aedes Architekturforum (bis 14. Mai), die vom 25. Juni bis zum 15. September auch in Madrid zu sehen sein wird (COAM. Galería de Arquitectura de Madrid). »Shaping the unbuilt environment« ist der Titel der Werkschau, deren Untertitel noch viel präziser so etwas wie den Leitgedanken der täglichen Arbeit von Gutiérrez-delaFuente Arquitectos (GdlF) definiert: »Working with the already-there!« Denn darum geht es meist für (auch andere) Planer, ob in Selb, in Madrid oder an fast jedem beliebigen Ort in Europa: Einerseits um das Planen und Bauen, andererseits aber auch um die Fürsorge für den Baubestand und für Freiräume in einem ländlichen oder in einem verdichteten städtischen Kontext, in dem fast alles schon gebaut worden ist. Die Arbeit mit dem Bestand – auch des noch unbebauten Raums – ist die DNA des madrilenischen Büros, das die Ausstellung gemeinsam mit Kaye Geipel, dem ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur der Architekturzeitschrift Bauwelt und aktuellen Präsidenten von Europan Deutschland, kuratiert hat.

Blick in die Ausstellung »Shaping the unbuilt environment« im White Cube von Aedes mit Petersburger Hängung und dem zentralen European Encounter Cabinet (Foto: © Erik-Jan Ouwerkerk)

Im Mittelpunkt der Ausstellung (sowohl im räumlichen als auch im übertragenen Sinn) steht das sogenannte European Encounter Cabinet, ein nur durch einen transluzenten und zu etwa zwei Dritteln geschlossenen Vorhang gefasster runder Raum im Raum, in dem sich – auf diversen Bildschirmen mit angeschlossenen Kopfhörern – Expertinnen und Experten aus dem internationalen Netzwerk des Büros zur Zukunft von Architektur und Stadtplanung in europäischen Städten und Regionen äußern. Diese jeweils neun- bis zwölfminütigen Interviews mit Kristiaan Borret, Aglaée Degros, Andreas Hofer, Didier Rebois sowie Mónica Cid und Silvia Villacañas können übrigens auch durch das Einscannen eines QR-Codes im Ausstellungskatalog oder durch Aufruf der Videoplattform YouTube ganz in Ruhe zu Hause an- beziehungsweise nachgehört werden.

Gutiérrez-delaFuente Arquitectos in Zusammenarbeit mit ALN Architekturbüro Leinhäupl + Neuber: Realschule Kemnath (2019–2025) (Foto: © Roland Halbe)
Gutiérrez-delaFuente Arquitectos in Zusammenarbeit mit Nexo Arquitectura und Andrés Perea Arquitecto: Metro de Madrid Transport Complex, Madrid (2016–2022) (Foto: © Fernando Alda)

An den vier Wänden des White Cube bei Aedes, die gewissermaßen einen Wandelgang um diesen Mittelpunkt herum bilden, werden bereits abgeschlossene, aber auch aktuelle GdlF-Projekte präsentiert: in insgesamt sechs thematischen Clustern und jeweils mit Bild- und Texttafeln in Petersburger Hängung. Manche Projekte werden gleich in mehreren Clustern dokumentiert, etwa der siegreiche Wettbewerbsbeitrag für Europan 9, Urban Regeneration Plan of Selb (im Ausstellungs- und Katalogkapitel »Involving existing communities and stimulating processes of co-creation«) mit dem daraus hervorgegangenen Pilotprojekt »Haus der Tagesmütter« (2008–2012, in Zusammenarbeit mit TallerDe2 Arquitectura und SelbWERK), das als bauliche Ergänzung eines bestehenden städtischen Blocks durch mehrere unterschiedlich dimensionierte und geformte Baukörper in einer Reihe im Kapitel »Exploring the unexploited power of in-between spaces« dargeboten wird. Auch das jüngste GdlF-Bauprojekt, die Realschule Kemnath (2019–2025, in Zusammenarbeit mit ALN Architekturbüro Leinhäupl + Neuber) mit ihren großvolumigen Beton- und Holzkonstruktionen ist gleich doppelt vertreten: in den Kapiteln »Closely linking the territorial project with the scale of proximity« und »Caring for circular strategies«. Neben weiteren Hochbauten prägen aber auch städtebauliche und freiraumplanerische Arbeiten das Werk des madrilenischen Büros, etwa die Wettbewerbsbeiträge Low Line London (2019, engere Wahl), bei der die Potenziale einer aufgegebenen, 8 Kilometer langen und auf einem Viadukt geführten Bahntrasse und ihres Basements herausgearbeitet werden sollten, und Madrid Bosque Metropolitano (2020, zweiter Preis), bei dem es um die Planung zur Vervollständigung eines 75 Kilometer messenden Grüngürtels um die spanische Hauptstadt ging.

Gutiérrez-delaFuente Arquitectos in Zusammenarbeit mit MAKER Architecten: Rue Haute 275, Sozialwohnungsbau, Brüssel (seit 2020, in Bearbeitung) (Fotomontage: © Gutiérrez-delaFuente/MAKER)
Gutiérrez-delaFuente Arquitectos: Low Line London (Wettbewerb 2019, engere Wahl) 
(Visualisierung von Drama, © Gutiérrez-delaFuente)

Gerade den städtebaulichen und freiraumplanerischen Projekten hätten etwas ausführlichere Erläuterungstexte sicher gut getan, zumal die Pläne selbst, vor allem für Laien, nicht immer gut lesbar sind. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen und hinzuhören, was Natalia Gutiérrez und Julio de la Fuente (und was die sechs Interviewten) zu sagen haben. Am 24. April um 19 Uhr wird das spanische Architektenpaar zusammen mit Ulrike Dix und Martin Fröhlich vom Berliner Büro AFF Architekten in einem von der Architekturprofessorin Hilde Léon moderierten Gespräch im Rahmen der Kooperationsveranstaltung »Schnittpunkte. Architektur des 21. Jahrhunderts« im Instituto Cervantes Berlin (Rosenstraße 18, 10178 Berlin) auftreten.

 

Die Ausstellung »Shaping the unbuilt environment« ist bis zum 14. Mai im Aedes Architekturforum (Christinenstraße 18–19, 10119 Berlin) zu sehen. Die Öffnungszeiten sind montags von 13 bis 17 Uhr, dienstags bis freitags von 11 bis 18.30 Uhr (donnerstags bis 20 Uhr) und sonntags sowie an Feiertagen von 13 bis 17 Uhr. Der Katalog (64 Seiten, englisch) kostet 10 Euro.

Weitere Informationen zur Ausstellung und zum Begleitprogramm

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