In mancher Situation geblufft: Zum Tod der Architekturkritikerin und Publizistin Ingeborg Flagge

Eduard Kögel | 17. Januar 2025
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Die 1942 geborene Ingeborg Flagge lernte Anfang der 1960er-Jahre die englische Sprache im britischen Cambridge und schloss in Köln mit der staatlichen Prüfung für Übersetzerinnen ab. In London heiratete sie 1967 den deutschen Architekten Otto Flagge, der in Großbritannien ein Postgraduiertenstudium der Stadtplanung absolvierte. Flagge setzte ihr Studium bis 1971 an der Universität zu Köln in den Fächern Philosophie, Alte Geschichte, Sanskrit, Klassische Archäologie und Ägyptologie fort. Zwischenzeitlich verbrachte sie ein Jahr am University College in London und promovierte 1971 in Klassischer Archäologie und Ägyptologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln mit der Untersuchung zur Bedeutung des Greifen im römischen Totenkult.

Wiederaufbau einer Publikation – die Chefredakteurin

Nach Abschluss der Ausbildung kam Flagge 1971 eher zufällig zum Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) der nach dem Krieg seinen Sitz in der Bundeshauptstadt Bonn hatte, wo sie für Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit zuständig war. Die vom BDA herausgegebene Zeitschrift Der Architekt (heute: Die Architekt) geriet Anfang der 1970er-Jahre in die Krise, da sie damals vor allem unredigierte Firmeninformationen übernahm und verbreitete. 1974 setzte der BDA dann Ingeborg Flagge als Chefredakteurin ein, die von sich selbst sagte, sie habe damals wenig Ahnung von Architektur gehabt. Aber offensichtlich hatte sie das Selbstbewusstsein und die Neugierde, eine am Boden liegende Publikation neu aufzustellen. Möglicherweise kam ihr dabei zum einen zugute, dass sie mit ihrem Hintergrund aus der historischen Forschung, der Archäologie und der gerade erlernten Öffentlichkeitsarbeit ein gutes Know-how mitbrachte, das für den Neustart nötig war. Zum anderen halfen ihr der Architekt Kurt Ackermann und der Grafiker Otl Aicher, ein Konzept und das visuelle Erscheinungsbild zu entwickeln, mit dem sie die Zeitschrift auch inhaltlich neu positionieren konnte. Bis 1978 versuchte Flagge sich daneben an einer Habilitation zur Symbolik in der Architektur des 20. Jahrhunderts, die sie jedoch aufgab, um in den folgenden fünf Jahren in Bonn die Geschäftsführung des BDA zu übernehmen. Daneben schrieb sie für Zeitungen, machte Sendungen für den Rundfunk, gab in den 1980er-Jahren die Buchreihe »Architektur in der Demokratie« im Auftrag des Ministers für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen heraus und übernahm weitere freiberufliche Tätigkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. 1998 verließ sie nach mehr als 25 Jahren die Redaktion der Zeitschrift Der Architekt, da sie mit dem Selbstbild des BDA nicht mehr einverstanden war und, wie sie auf ihrer Webseite schrieb, »im Protest gegen bestimmte Tendenzen in der Architektenschaft« – womit sie einen Rückgang der Qualität beim Bauen meinte. 

Themenvielfalt und Besucherrekorde im DAM – die Museumsdirektorin

1995 übernahm Flagge als Professorin den Lehrstuhl für Bau- und Architekturgeschichte an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. Mit ihrer Berufung als Direktorin des DAM in Frankfurt am Main konzentriere sie sich ab Mitte 2000 auf diese Aufgabe. Dort rief sie den internationalen Hochhauspreis ins Leben, den sie auch organisierte und der seit 2003 in zweijährigem Rhythmus bis heute vergeben wird. Das von Oswald Mathias Ungers zwischen 1979 und 1984 in einem Bestandsbau konzipierte Museum selbst wurde renoviert und die durch ihre Vorgänger vorgenommenen Veränderungen wurden zurückgebaut. Flagge verdoppelte die Zahl der Ausstellungen und verdreifachte die Besucherzahlen. Um das zu erreichen, inszenierte sie die Informationen und Projekte auch für Laien verständlich. Sie zeigte monografische Ausstellungen noch lebender Architekten wie zum Beispiel zu Thomas Herzog (2001–2002) oder Oscar Niemeyer (2003). Inhaltlich erweiterte sie den Fokus zudem auf Architekturen und Architekten in außereuropäischen Regionen. So zeigte sie eine Schau zu Lehm-Moscheen in Mali (2003), eine monografische Ausstellung über den bis dahin in Europa unbekannten und im Jahr zuvor verstorbenen Architekten Geoffrey Bawa aus Sri Lanka (2004) sowie Gouachen und Zeichnungen des Ägypters Hassan Fathy (2005). 2004 lud Flagge zur »Revision der Postmoderne« ein und im folgenden Jahr gab sie dem unter Architekten eher belächelten österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser (2005–2006) eine große Bühne. Dem amerikanischen Architekturfotograf Julius Shulman widmete das DAM zum 95. Geburtstag im Herbst 2005 eine Ausstellung, bevor Ingeborg Flagge zum Ende des Jahres die Institution zwei Jahre vor Ablauf ihres Vertrages vorzeitig verließ. Da das kommunale Museum mit dem nationalen Anspruch nur unzureichende Unterstützung durch Sponsoren und Politik erfuhr, sah sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten schwinden.  

Unter ihrer Ägide wurde das DAM nicht nur wegen der erhöhten Besuchszahlen erfolgreich, sondern sie setzte auch Zeichen mit internationaler Ausstrahlung, indem sie bis dahin unbekannte Architekten und Themen zeigte und die Publikationen zweisprachig herausgab. Zudem suchte sie Verbindungen zu anderen Kulturbereichen wie der Musik, der Literatur, dem Film, der Fotografie und dem Ingenieurwesen. 

Natürlich war Ingeborg Flagge als Frau beim BDA in den 1970er- und 1980er-Jahren in einer damals männerdominierten Fachwelt eine Vorreiterin, die jedoch befand, dass sie dadurch keine Nachteile gehabt hätte. In einem Interview sagte sie 1988: »Die Frage Mann oder Frau spielt für mich überhaupt keine Rolle. Für mich ist nur wichtig, ob jemand kompetent ist oder nicht.« Dass sie in der Welt der Lobbyisten in Bonn und später auch als Direktorin am DAM »in manchen Situationen bluffen musste«, ist im selben Interview nachzulesen. 

 

Auf Ingeborg Flagges Website findet sich eine Auswahl ihrer Texten, der letzte stammt aus dem vorigen Jahr. 

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