Ein verbotener Ort erzählt seine Geschichte
Eine Zelle im Kaßberg-Gefängnis misst nur 8.8 Quadratmeter. (Foto: rennfleisch Architekten)
Der Kaßberg ist eines der größten zusammenhängenden Jugendstil- und Gründerzeitviertel Europas. Seit vorigem Jahr ist im Chemnitzer Wohnquartier eine Wunde geschlossen: Als das ehemalige Gefängnis umgebaut und das Areal mit neuen Wohnhäusern erweitert wurde, konnte ein Gedenkort integriert werden.
Gründlich sanierte Häuser und baumbestandene Straßen lassen nicht darauf schließen, dass sich in nächster Nähe ein Unort befindet, der über weit mehr als hundert Jahre Schrecken verbreitete. Während ich mich heute unbesorgt durch die Straßen bewegen kann, lauerte auf dem Kaßberg zu DDR-Zeiten überall der Staatsapparat. Jetzt deuten – auf den ersten Blick – nur noch ein paar hohe Hinweis- und Gedenktafeln mit Bildern und Texten darauf hin, dass es hier Geschichte zu erleben gibt. Die Schautafeln begrenzen die Sicht auf das dahinterliegende Gebäude, das mit kreuzförmigem Grundriss auf dem etwas abschüssigen Gelände steht. Während auf ihrer straßenabgewandten Seite Informationen zu den Jahren im Nationalsozialismus zu finden sind, bin ich an der Straße mit der DDR-Geschichte konfrontiert. Doch wo bin ich hier eigentlich?
Das Kaßberg-Gefängnis wurde bereits 1877 am Rand eines bürgerlichen Wohnviertels gebaut und war ab 1933 Untersuchungs- und Strafgefängnis der nationalsozialistischen Justiz. Nach 1945 nutzte der sowjetische Geheimdienst das Gebäude, und zu DDR-Zeiten waren darin das größte Stasi-Untersuchungsgefängnis und die zentrale Abschiebehaftanstalt der DDR untergebracht. Heißt: Diese Durchgangsstation passierten über die Jahre mehr als 33'000 Menschen, die als politische Gefangene galten und von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Neben den baulichen Informationen und kurzen Biografien und Erläuterungen findet sich hinter den Infowänden auch ein Orientierungsplan. Auf einer Karte des Stasi-Unterlagen-Archivs ist zu sehen, in wie vielen Gebäuden hier früher das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) präsent war. In den Straßen rund um die Haftanstalt gab es ein umfangreiches Netz an Liegenschaften der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt – darunter Dienstgebäude mit Telefonüberwachung und Postkontrolle genauso wie Wohngebäude für MfS-Mitarbeitende und ein Wohnheim für junge Stasi-Mitarbeiter. Auf der Tafel wird das als »eigener Kosmos des MfS« dargestellt, und mir läuft erstmals ein Schauer über den Rücken.
Während des Umbaus (Foto: rennfleisch Architekten)
Umgebaut zum Museum (Foto: rennfleisch Architekten)
Einige wenige Aufnahmen der Gebäude sind aus dieser Zeit von Privatpersonen gemacht worden – unter größter Gefahr, denn natürlich war das Fotografieren hier unter Strafe verboten. Die Aufnahmen zeigen riesige graue Gebäudeteile sowie mit Stacheldraht bekrönte Mauern und ein Eisentor als Grenze des Gefängnisareals. Heute ist es hier ganz anders: Die Mauern sind größtenteils verschwunden, die Gefängnisfassaden cremeweiß gestrichen, und ein Weg führt rund um das Gebäude und bis zum rückwärtig liegenden Museumseingang. Noch bis 2010 betrieb der Freistaat Sachsen das Gefängnis, dann wurde es stillgelegt. Der Weg zur Nachnutzung gestaltete sich schwierig – zu groß die Narben, die das Areal über die Jahrzehnte hinterlassen hatte. Zugleich setzte sich der Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis seit seiner Gründung 2011 für den Erhalt des früheren Gefängnisses und die Errichtung eines Gedenkorts ein, der an die verschiedenen Zeitabschnitte erinnert.
Ab 2017 plante schließlich die Chemnitzer Gesellschaft für Wohnungsbau (Cegewo) den Umbau und die teilweise Erweiterung des Gebäudes zum Wohnprojekt »Neuer vorderer Kaßberg«. Der ursprünglichen Kreuzform des Gebäudegrundrisses lag der Gedanke zugrunde, dass die Häftlinge aus der mittigen Rotunde am einfachsten zu überwachen seien. Drei der »Arme« sind nun umgenutzt, im vierten, dem B-Trakt, befindet sich der Gedenkort. In dessen Erdgeschoss sind der Empfang, mehrere Seminarräume, eine Cafeteria und Verwaltungsbereiche untergebracht. In den darüber liegenden Museumstrakt gelangt man über das Treppenhaus.
Der erste Blick ins Atrium ist doppelt überwältigend: Einerseits sind die Räumlichkeiten von rennfleisch Architekten sehr präzise und zurückhaltend restauriert worden. Cremeweiße und dunkelrote Sechseck-Kacheln überziehen den gesamten Boden und die hell gestrichenen Treppen und Geländer aus Metall lassen alles sehr hell und freundlich wirken. Doch dann die Erinnerung: Ein Gefängnis, winzige Zellen von gerade 8.8 Quadratmetern entlang der Gänge, Fanggitter in den Treppenaugen und permanente Überwachung. In den Zellen lassen die Ausstellungsmacher beier+wellach aus Berlin die Schicksale einzelner Insassen wiederaufleben, im Kopfbau gibt es pro Etage ein einzelnes Thema für den Überblick: Im ersten Obergeschoss die Geschichte des Freikaufs zu DDR-Zeiten, darüber die Entwicklung und Bedeutung des MfS, und zuletzt wird im dritten Obergeschoss die Geschichte der NS-Zeit am Kaßberg aufgegriffen. Die nun dreiseitig geschlossene Rotunde, die am Tag meines Besuchs leer war und die ich dadurch als umso überwältigender empfand, nutzt das Museum für temporäre Ausstellungen.
Längsschnitt (© rennfleisch Architekten)
Erdgeschoss (© beier+wellach projekte)
1. Obergeschoss mit Ausstellungsbereichen (© beier+wellach projekte)
Aktuell ist neben der Daueraustellung im Haus die Fotoausstellung »Frauen von Hoheneck« des Forums für politisch verfolgte und inhaftierte Frauen in der SBZ/SED-Diktatur zu sehen. Wie in allen DDR-Gefängnissen musste auch hier Zwangsarbeit geleistet werden, die hergestellte Bettwäsche oder Damenstrumpfhosen verkaufte die DDR gegen Devisen an Unternehmen in der Bundesrepublik. Das Stollberger Gefängnis Hoheneck war das größte und auch berüchtigtste Frauengefängnis der DDR und ist heute ebenso eine Gedenkstätte. Wie Nancy Aris, die sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, im Rahmen der Eröffnung erklärte, öffnen der Fotograf Dirk Vogel und Autorin Cathia Hecker mit ihrer Ausstellung »die dicke Tür des Nichtwissens und des Schweigens einen Spalt weit« und machen die Geschichte der Frauen öffentlich. In Kombination mit dem Gedenkort sind es umso mächtigere Bilder, hatten doch auch viele »Hoheneckerinnen« Kontakt zum Kaßberg-Gefängnis, ob als Zwischenort oder im Rahmen des Freikaufs.
Das Museum zu verlassen, fühlte sich wie ein Aufatmen an. Trotz der hellen Gestaltung und dem Wissen, dass es sich um einen Blick auf die Geschichte handelt, macht der Ort sehr betroffen. Der wiesengesäumte Rundweg führt wiederum zur Straße, vorbei an den neuen, barrierefreien Wohnungen. Und vorbei an jungen Bäumen, die hier, wo früher die hochgemauerten Einzelfreigang-Zellen waren, Teil der neuen Zeitschicht im Wohnquartier sind.