Die vielen Leben der Lucia Moholy

Nadia Bendinelli | 28. Februar 2025
Hans Peter Klauser, Lucia Moholy in ihrem Atelier in Zollikon, 1972 (Foto: © Hans Peter Klauser/Fotostiftung Schweiz)

»Ich habe ein paar Jahre meines Lebens da und ein paar Jahre meines Lebens dort fotografiert, aber im Grunde bin ich gar kein Fotograf, bin ein Schreiber«, sagte Lucia Moholy in einem späten Interview. Dennoch ist ihr Beitrag zur Fotografiegeschichte weitaus relevanter, als man aus dieser Aussage schließen könnte. Selbst diejenigen, die ihren Namen noch nie gehört haben, kennen womöglich einen wichtigen Teil ihres Werkes: die ikonischen Aufnahmen des Bauhausgebäudes in Dessau, der dort entstandenen Designstücke oder die Porträtbilder der Bauhäusler selbst. 

Lucia Moholys Aussage hat trotzdem ihre Berechtigung: Die gebürtige Pragerin war ihr Leben lang auch Autorin. Zur Fotografie kam sie erst nach der Heirat, als sie mit ihrem Mann, dem Künstler László Moholy-Nagy, ans Weimarer Bauhaus zog. Er gestaltete dort ab 1923 als Meister die Lehre wesentlich mit; sie lernte derweil in einem Fotoatelier die technischen Finessen der Fotografie. Zwischen 1924 und 1928 betraute sie der Architekt und Bauhaus-Direktor Walter Gropius mit der Aufgabe, die in der Kunstschule entstandenen Objekte zu dokumentieren. Lucia porträtierte und inszenierte den Neubau in Dessau aus jedem Winkel. Ihre Fotografien transportieren formell die Werte der Institution und prägen bis heute deren Bild weltweit. Durch die passende Bildsprache nach den Prinzipien des Neues Sehens vermögen sie, die Schule inhaltlich zu erklären. Der Künstler Max Bill sagte dazu in einem TV-Interview: »Die Aufnahmen, die Lucia Moholy am Bauhaus gemacht hat, sind die einzigen wirklich guten Dokumentaraufnahmen, die es vom Bauhaus gibt. Und sie sind nicht nur die einzigen, sondern es ist sehr unwahrscheinlich, dass es bessere geben könnte.« Trotzdem wurde Lucia nie als Mitarbeiterin betrachtet, und für ihre Arbeit bekam sie zwar gelegentlich kleine Wohnkosten-Zuschüsse, doch nie ein richtiges Honorar. 

László Moholy-Nagy, Lucia Moholy, Dessau, 1920er-Jahre (Foto: László Moholy-Nagy)
László Moholy-Nagy, Lucia Moholy, László und Lucia, 1923 
Mehr als nur Bauhaus-Fotografin

Dem Kuratorium lag besonders am Herzen, die Wahrnehmung von Lucia Moholys Arbeit zu vervollständigen. Denn meist wird sie heute als »die Bauhaus-Fotografin« bezeichnet, obwohl die Kunstschule nur ein Kapitel ihrer Lebensgeschichte ist. Im Hauptbereich der Ausstellung in Winterthur zeugen darum die unterschiedlichen Fotoserien von immer neuen Lebensabschnitten und Interessenschwerpunkten. Zuerst sind ihre Bild-Experimente ohne Kamera zu sehen. Sie wurden lange ihrem Mann zugeschrieben, entstanden aber als gemeinsame Arbeit. Übrigens werden auch einige berühmte Essays und Texte noch heute ihm zugerechnet, die in Wahrheit Lucia geschrieben hat.

Nach der Zeit am Bauhaus – die natürlich auch Teil der Ausstellung ist – kehrte das Paar 1928 nach Berlin zurück, und kurz darauf trennten sich ihre Wege. Lucia begann Fotografie an der Itten-Schule zu unterrichten. Außerdem erhielt sie Aufträge als Fotojournalistin und schrieb Reportagen. 

Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 musste Theodor Neubauer untertauchen – Lucias große, wenn auch geheime Liebe, denn er war verheiratet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er für die KPD, also die Kommunistische Partei Deutschlands, im Parlament gesessen und war als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime bekannt. Doch bald wurde er in Lucias Wohnung aufgegriffen und verhaftet. Als Gesinnungsgenossin musste sie sofort fliehen: Zuerst ging sie nach Prag, dann erreichte sie über Wien und Paris London. Alle ihre Negative, damals noch in Form von schweren Glasplatten, übergab sie vor ihrer Flucht aus Deutschland in László Moholy-Nagys Obhut. 

In London richtete sie ein Fotostudio für Porträts ein. Vor ihre Linse kamen Mitglieder der Bloomsbury-Künstlergruppe sowie weitere Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle – alle waren bekennende Hitler-Gegner. Ein Zitat auf einer Wand der Ausstellung beschreibt, wie Lucia diese Aufgabe verstand: »Ich habe die Leute genau so fotografiert wie ein Haus.« Darunter hängen Porträts, die aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen wurden. Zur selben Zeit schrieb Lucia im Auftrag des Penguin-Verlags den Bestseller »A Hundred Years of Photography 1839–1939«. 1940 spielte ihr das Schicksal erneut übel mit: Das Londoner Haus, in dem sich ihr Porträtstudio befand, wurde von deutschen Flugzeugen bombardiert. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als schon wieder von vorne anzufangen. Sie arbeitete mit Mikrofilmen und leistete wertvolle Pionierarbeit bei der Weiterentwicklung und Anwendung der neuen Technologie.

Giorgio Hoch, Lucia Moholy, um 1980 (Foto: © Giorgio Hoch)
Späte Anerkennung

Im dritten Saal sind Dokumente versammelt, die ihrem Werk einen Kontext geben und aus ihrem Leben erzählen: Briefwechsel, Interviews, Publikationen und Dokumente. Auch über ihre Beziehungen zur Fotostiftung Schweiz wird berichtet. Ein zentrales Thema ist die erstaunliche Geschichte ihrer verschwundenen Negative: Nach Kriegsende entdeckte Lucia ihre verloren geglaubten Bilder im Katalog zur Bauhaus-Ausstellung, die 1938 von Walter Gropius, dessen Frau Ise und Herbert Bayer in New York realisiert worden war. Doch ihr Name stand nicht neben den Fotografien. Sie bat Gropius, ihre Negativplatten zurückzugeben. Es folgten verbale Erniedrigungen und ein langwieriger Rechtsstreit. Für Gropius waren Lucias Fotos lediglich Abbildungen seiner Architektur, die er selbstverständlich für seine Zwecke nutzen durfte. Lucia hatte damals Mühe, finanziell über die Runden zu kommen. Die ihr zustehenden Tantiemen hätten ihr sehr helfen können, erklärte ihre Freundin Angela Thomas, Max Bills zweite Ehefrau, später in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen. Bedenkt man, dass eben diese Bilder nach dem Krieg Gropius und die Geschichte »seiner« Schule weltberühmt machten, ist Lucias Schilderung des Rechtsstreits mit dem vermeintlichen Freund mehr als verständlich: Sie sprach von einer »erschütternden Erfahrung«. Als 1957 bloß ein Teil der Negative zurückkam, wurden ihr auch noch die Transportkosten in Rechnung gestellt. 330 Platten erhielt sie nie zurück.

Bei der Ausstellungsvorbereitung tauchten 50 der »verlorenen« Negative wieder auf: Sie befanden sich in László Moholy-Nagys Nachlass – auch er hatte stillschweigend von Lucias Arbeit profitiert.

1959 zog Lucia Moholy nach Zürich, um an der Publikation »Who’s Who in Graphic Arts« mitzuarbeiten. In der Schweiz verfasste sie Kritiken für renommierte Zeitschriften, schrieb Bücher und brachte sich ins Gespräch. Ab den 1970er-Jahren bekam sie endlich die gebührende Anerkennung und Unterstützung der Kunstszene. Zum ersten Mal würdigt nun eine große Retrospektive ihr Gesamtwerk. So wird diese sehr unabhängige und entschlossene Frau besser greifbar. Nach Prag und Winterthur wird die Wanderausstellung in die USA weiterziehen.

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