Das große Schaulaufen
Carlo Ratti, der Kurator der 19. Architekturbiennale, ist ein versierter Wissenschaftler. Doch reicht das, um den Großanlass zu stemmen? Die Architekturausstellung scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen und müsste sich vermehrt der Frage nach ihrer Dimension stellen, statt bloß eine Palette von Projekten zum Besten zu geben.
Der Titel der diesjährigen Architekturbiennale »Intelligens. Natural. Artificial. Collective« mutet etwas hegelianisch an. Genauer gesagt erinnert er an die drei Phasen der Dialektik, welche nach Hegel die Entwicklung von Ideen beschreiben: These, Antithese, Synthese. Könnte man Carlo Rattis Motto – das keines sein will, sondern ein »Call for Action« – so zusammenfassen? Es gibt unterschiedliche Arten von Intelligenz und diese schreiten von einer natürlichen über eine künstliche (oder umgekehrt?) zu einer kollektiven Form von Intelligenz. Kurzum: Gefragt ist heute Schwarmintelligenz – von Schwärmen spricht man schließlich sowohl in der Tierwelt als auch bei Daten. Wobei ich bei Schwärmen in konkretem Fall spontan eher an Zahlen denke, sprich an die ungeheure Anzahl von Teilnehmenden, die dieses Jahr involviert sind; 750 sind es. Das ist mitunter auf den Open Call »Space for Ideas« zurückzuführen, den Ratti letztes Jahr lanciert hatte.
Das macht diese Biennale nicht besonders leicht verdaulich, auch wenn immerhin – KI sei Dank – die kurzen Zusammenfassungen der Projekte etwas helfen beim Verdauen oder zumindest bei der Entscheidung, ob man die jeweilige Buchstabensuppe überhaupt zu sich nehmen soll. Man kann es aber auch easy nehmen: Der Kurator und Professor (unter anderem am MIT) betonte an der Pressekonferenz, man könne auch in fünf Minuten verstehen, worum es ihm gehe. Man darf heuer Biennale-Content »bingen«. Je nach Ausdauer kann die individuelle »chain reaction« der Besuchenden – O-Ton Ratti – auch auf fünf Tage ausgedehnt werden, hat man die Energie und die Zeit dazu.
Vielleicht geht es nur darum, drei Typen von Intelligenz aufzuzeigen, ohne sie gegeneinander auszuspielen? Denn es stellt sich bei der hegelschen Lesart tatsächlich die Frage, ob der Begriff »Collective« die beiden anderen, also »Natural« und »Artificial«, vereint. Die Begriffe natürlich und künstlich nebeneinander zu nennen, weist allerdings darauf hin, dass sie dennoch als Gegensätze aufgefasst werden. Was bedeutet das für die menschliche Intelligenz?
Ratti erwähnte mehrmals, dass das lateinische Wort »gens« für Volk in »Intelligens« steckt. Gilt es gar, neue Formen von Intelligenz oder Wissen zu entwickeln? Meint Ratti das mit seiner Beschreibung der Biennale als Labor? Und was haben diese Konzepte mit Architektur zu tun? Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, möchte ich Kurator Carlo Ratti, Jahrgang 1971 und geboren in Turin, mittels einer von ihm gelegten Fährte auf den Zahn fühlen. Anfang April gab die Pressestelle der Biennale di Venezia nämlich bekannt, dass der Goldene Löwe für das Lebenswerk an die amerikanische Philosophin Donna Haraway sowie in memoriam an den italienischen Architekten Italo Rota gehen soll.
Diese Wahl ist in der Regel auf den jeweiligen Kurator beziehungsweise die jeweilige Kuratorin der Biennale zurückzuführen. In der Begründung heißt es, Haraways Beitrag zur Vorstellung, dass natürliche, künstliche und kollektive Intelligenzen zusammenwirken, sei unbestreitbar. Und weiter, dass ihre Schriften eine Inspiration für die Biennale-Ausstellung gewesen seien. Inwiefern lassen sich die Gedanken der Philosophin, Autorin und Frauenrechtlerin in Rattis Biennale wiederfinden? Wäre sie happy mit Rattis »fraktalem Superorganismus«? Oder würde sie darin genau das von ihr wiederholt kritisierte Konzept der »Vision«, das auch Manager gerne für sich reklamieren, wiedererkennen? Um es vorwegzunehmen: Ich vermute, sie würde die Frage mit Ja beantworten.
Apropos Manager: Genauso gestresst und selbstgefällig kam mir der Mann an der Pressekonferenz vor. Geduldig wartete er zwar, bis er nach der Pathos-Keule von Pietrangelo Buttafuoco, dem neuen Biennale-Direktor, auch etwas sagen durfte. Aber danach rezitierte er mehr oder weniger die Pressemitteilung, die man eh schon hatte, und wirkte dabei wie ein Schulbube, der keine Fehler machen und zwischendurch auch mal lustig sein will. Man dachte vor dem Bildschirm sitzend etwas wehmütig an Lesley Lokkos Auftritt und an die positiv geladene Stimmung im Saal vor zwei Jahren. Vielleicht liegt diese Art der Präsentation am Universitäts-Habitus, der sich scheut, politisch oder emotional Statements abzugeben. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Aufgabe des Kuratierens einer Ausstellung doch einiges mehr an Kreativität abverlangen würde. Intelligenz allein reicht nicht aus.
Bezüglich Kreativität hat Ratti immerhin eine richtige Entscheidung getroffen. Denn will man die Leute dermaßen mit Inhalten überfordern, dann muss das wenigstens in Schönheit geschehen. Für die Szenografie hat der Biennale-Kurator das Berliner Büro Sub engagiert, das 2017 von Niklas Bildstein Zaar und Andrea Faraguna gegründet wurde. Kurze Fußnote: Faraguna, von Haus aus Architekt, gewann für die Kuration des Pavillons von Bahrain den Goldenen Löwen für den besten nationalen Beitrag. Bekannt wurde Sub vor allem für das Entwerfen von Bühnenbildern – etwa für Travis Scott oder Ye – oder von Modeschauen und Fashion-Shops, namentlich für Balenciaga.
Unter der Leitung von Bildstein Zaar übersetzte das Team Rattis Idee des Fraktals in ein Ausstellungsdesign, das die Fülle von Projekten immerhin etwas strukturiert. Und auch materiell subtile Hinweise auf die jeweiligen Sektionen liefert, in denen man sich gerade bewegt – viel Bewegungsraum hat man zwar nicht. Die Materialien der Pfeiler, an denen die Tafeln mit den Projekten angebracht sind, wechseln von hölzern im Sektor »Natural« zu Aluminium bei »Artifical» und zu schwarz bei »Collective«. Zwischendurch scheinen die Pfeiler mit einer Art Pilz bewachsen zu sein – aus dem 3D-Drucker vermutlich, nicht ein echter.
Bei meinem zweiten Durchgang nach der Preview erwies sich dieses Raster als gedankliche Stütze. Und auch die eindrückliche Installation im ersten Raum des Arsenale lieferte eine anschauliche Vorspeise für das mehrgängige Menu, das uns Ratti im Anschluss serviert. Das Setting beweist: Wie wir etwas wahrnehmen, ist stark vom Kontext abhängig. Diesbezüglich würde mir Donna Haraway wohl zustimmen. Ihre Idee des »situierten Wissens« besagt, dass es Objektivität, wie sie gemeinhin in der Wissenschaft verstanden wird, nicht gibt. Wissen ist weder neutral, körperlos, standortunabhängig noch universell. Für Haraway ist Wissen stets historisch und kulturell spezifisch. Zudem betont sie auch seine Fragmentarität. Mit anderen Worten: Wissen im Singular gibt es nicht, es ist stets in verschiedenen Körpern verortet.
Genau betrachtet hat das ziemlich wenig mit Rattis drei Typen von Intelligenz zu tun, denn dieser Ansatz bleibt im traditionellen Verständnis von Wissenschaft verhaftet. Und in der Vorstellung, dass Intelligenz etwas ist, das in erster Linie bei Menschen Anwendung findet. Was ganz und gar nicht im Sinne Haraways ist. Daran ändern auch noch so viele Bäume, Pilze oder andere Organismen in den Corderie nichts.
Übrigens: Von Haraways Konzept der »String Figures« (Fadenspiele) versteht der Kurator auch nicht gerade viel. Will man aber die gebaute Umgebung wirklich neu denken – und eigentlich sagt Ratti ja, dass er das tun möchte –, dann genügt es eben nicht, etwas »Tree Tech« mit Robotik zu mixen, Low- und Hightech als gleichberechtigt zu propagieren und ein paar tolle Projekte in dunkle Räume zu quetschen. Was ändern muss, ist die Haltung, die Herangehensweise. Gewiss: Alle Themenkomplexe, die Carlo Ratti präsentiert, sind relevant. Dazu gehört der Umgang mit Überhitzung, die Themen Zirkularität, partizipatorische Architektur oder Wasser. Aber die Biennale verkommt vor lauter Akkumulation zu einem kräftemessenden Schaulaufen. Fäden spinnen und Lösungen erzählen geht anders.
Das Universitäts-Labor mag Rattis vertrautes Feld sein, doch ein Labor, das vom Ort lernt, ist das nicht. Von Venedig als Vorbild ist zwar wiederholt die Rede. Doch wer wirklich von Venedig lernen will, muss lernen zu reduzieren. Das wäre ein echter Gewinn, nicht zuletzt für die Bewohnerinnen und Bewohner der Lagunenstadt. Wir brauchen für ein solches Umdenken mehr denn je Menschen wie Donna Haraway. Denn jemand wie sie schafft es mit ihren Schriften, Gedanken in eine neue Richtung zu lenken – ganz ohne Materialschlacht. Bestenfalls kann man das aus dieser Biennale lernen.