Bewegtes Licht: Balkrishna Doshi und Dayanita Singh im Dialog
Ein Besuch im Architekturbüro von Balkrishna Doshi in Ahmedabad und ein filmisch-fotografischer Essay der Künstlerin Dayanita Singh über ein Haus des indischen Architekten zeigen, was Architektur und Fotografie miteinander verbindet.
Vielleicht waren es die hohen Temperaturen, die zu einer gewissen Sinnesverwirrung beitrugen: Denn kaum trat ich durch das unscheinbare Tor und setzte den Fuß auf den mit unregelmäßigen Keramikfragmenten und Steinplatten belegten Boden, hatte ich das Gefühl zu träumen. Den Bau des Architekturbüros Sangath hatte ich schon x-mal gesehen. Allerdings nur auf Fotos in Büchern sowie 2019 in der Ausstellung im Vitra Design Museum, die damals dem indischen Architekten und Pritzker-Preisträger Balkrishna Doshi (1927– 2023) ausgerichtet worden war. Zu jener Zeit lebte Doshi noch und reiste aus Indien zur Eröffnung. Der Mann hinterließ einen bleibenden Eindruck bei mir. Niemals hätte ich mir erträumt, dass ich einst sein Büro mit eigenen Augen sehen würde.
Doch da stand ich in der Hitze von Ahmedabad und erkannte im hinteren Teil des Gartens die charakteristischen Gewölbe des niedrigen Bauwerks. Von einem Bürogebäude hatte es wirklich gar nichts. Dass ich so unmittelbar an Doshis Person erinnert wurde beim Anblick dieses Gebäudes, ist kein Zufall. Denn Sangath ist ein Schlüsselprojekt des indischen Baukünstlers: eine Art gebauter Biografie und zugleich sein Experimentierlabor. Das erklärt vor Ort seine Enkelin Khushnu Panthaki Hoof, die das Büro Studio Sangath zusammen mit ihrem Mann Sönke Hoof weiterführt. Die Architektin leitet auch die Vastushilpa Foundation for Studies and Research in Environmental Design, die ihr Großvater gegründet hatte.
Nach einem herzlichen Empfang mitsamt ayurvedischem Getränk führt sie uns durch den verzweigten Bau, der fast etwas Labyrinthisches hat. Sie zeigt uns auch das ehemalige Büro von Doshi, in dem bis heute noch das Porträt seines Lehrmeisters Le Corbusiers hängt. Obschon Doshi – über seine Zusammenarbeit mit Le Corbusier und Louis Kahn – wesentlich beeinflusst war von der architektonischen Sprache der Moderne, fand er als Vertreter der ersten Generation indischer Architekten nach der Unabhängigkeit des Landes 1947 zu einer eigenen Haltung, die sich stark an seinen Wurzeln orientierte. Die dörfliche Lebensweise in Pune, die er als Kind erlebt hatte, sowie andere Vorbilder widerspiegeln sich auch im Konzept und in der Bauweise von Sangath, das 1980 fertiggestellt wurde.
Herausragend ist zum einen die Einbettung in die Landschaft, was angesichts der Tatsache, dass sich der Bau in einer Millionenstadt befindet, umso bemerkenswerter ist. Zum anderen kreieren auch die Wegführung und das Spiel mit den unterschiedlichen Niveaus eine bewegte Topografie. Man spürt durch die vielen Pflanzen sowie das Vorhandensein von Wasserbecken auf dem Gelände eine deutliche Abkühlung verglichen mit der brütenden Hitze auf der Straße. Das gesamte Ensemble vermittelt ein Gefühl von Ruhe und Harmonie. Obschon die Tonnengewölbe auch an ländliche indische Architektur erinnern, könnte man nicht genau sagen, zu welcher Kultur und Epoche das Ganze gehört. Khushnu erwähnt sogar Ägypten als Inspirationsquelle. Diese archetypische Anmutung hat nicht nur eine ästhetische Qualität, sondern ist auch bezüglich der Bauweise archaisch und innovativ in einem. Doshi wählte eine hybride Bauweise, die Röhren aus gebranntem Ton mit dünnen Betonschalen kombinierte.
Im Innern fällt die durch die präzise platzierten Öffnungen subtile Lichtführung auf. Ein Teil der Räume befindet sich unter der Erde, doch auch dorthin gelangt Licht. Farblich schaffen warme Rottöne, Weiß und einzelne farbige Akzente eine stimulierende und zugleich unaufgeregte Atmosphäre. Auch die Temperaturen sind in den Räumen angenehm, eine Klimaanlage gibt es nur im Sitzungszimmer. Doshi legte großen Wert auf die Abfolge, gleichsam die Choreografie der Räumlichkeiten, denn sie beeinflusst die Art und Weise, wie man sich in einem Bauwerk bewegt. Fließen sollten für ihn die Bewegungen, so wie das Leben etwas Fließendes ist. Diese besondere Eigenschaft von räumlichen Konstellationen betont Balkrishna Doshi auch in einem filmischen Essay der indischen Künstlerin Dayanita Singh.
Ihr »Portrait of a House: Conversations with BV Doshi« – zu dem übrigens auch ein gleichnamiges Buch beim Zeitschriftenverlag apartamento erschienen ist – sah ich ein erstes Mal gleich nach dem Besuch von Sangath. Mit anderen Worten: Es herrschte nach wie vor eine Temperatur von rund vierzig Grad. Das ist von Bedeutung, denn Hitze verändert die Wahrnehmung. Die Sinne sind zwar etwas dumpfer als sonst, aber vielleicht funktionieren sie auch intuitiver. Darüber nachzudenken, wie klimatische Bedingungen die Raumwahrnehmung verändern, ist dennoch nicht so abwegig; und gehörte wohl auch zu Doshis Bemühungen in seinem Schaffen als Architekt. Um Wahrnehmung geht es auch in der Begegnung zwischen Dayanita Singh und Balkrishna Doshi.
Die Ausstellung »A Photo Architect«, die verschiedene Werke Singhs zum Thema Architektur zeigte, fand dieses Jahr im Kanoria Center for Arts statt, auch das ein Bau von Doshi. Das Kunstzentrum befindet sich in unmittelbarer Nähe der von ihm gegründeten und gebauten Architekturschule CEPT (1968). Das Kanoria Center for Arts entstand ungefähr in der gleichen Periode wie Sangath und wurde 2012 um einen Ausstellungsraum erweitert.
Gleich beim Betreten der Ausstellung nahm ich die Stimme von Doshi wahr, die aus dem Video erklang. Es war keine hitzebedingte Halluzination, sondern wie gesagt Singhs Film, der diese Präsenz erschuf: »Architecture is not really the design. Architecture is a way of creating moods, creating situations, images, stories.« Wow, so glasklar und dichterisch kann man über Architektur reden, dachte ich gleich. Hier hatten sich offensichtlich zwei Menschen gefunden, die etwas Starkes verband: das Material Licht. Beide Disziplinen, nämlich Architektur und Fotografie, arbeiten hauptsächlich damit. Und darüber kann man sich offensichtlich länger unterhalten, wie das feinfühlige, dialogisch angelegte Porträt der Künstlerin zeigt.
Die Videoarbeit – streng genommen handelt es sich um eine Abfolge von Fotografien – entstand während der Pandemie, nachdem Singh im Auftrag einer indischen Architekturzeitschrift Doshis privates Wohnhaus fotografiert hatte. Normalerweise nimmt die Künstlerin keine solchen Aufträge entgegen. Bei Balkrishna Doshi machte sie eine Ausnahme. Um den begonnenen Austausch nicht abzubrechen, hatte Singh die Idee, Doshi die Bilder über Zoom zu zeigen und das Ganze aufzuzeichnen. Während die Künstlerin dem Architekten die Fotos seines Hauses und seiner Familie – darunter befindet sich auch seine Enkelin Khushnu – vorführte, kommentierte er, was er sah. Das Haus und seine Details etwa oder das Licht.
Doch plötzlich dreht sich das Gespräch um die Bewegungen und Gesten der Menschen auf den Bildern, um die gegenseitige Zuwendung. Um Zärtlichkeit. Um das, was diese Menschen miteinander verbindet. Es sei die Art und Weise, wie der Raum geschaffen ist, der diese Bewegungen begünstige, sagt der Architekt. Zugleich schafft es Singh, diese Interaktionen in ihren Bildern einzufangen. Sie ist als Fotografin Teil des Geschehens und nicht bloß außenstehende Beobachterin. Fotografie wird zur Liebkosung, »caress« sagt Doshi wörtlich. Bewegtes Licht und menschliche Nähe: Das ist die Essenz von Balkrishna Doshis Architektur und Dayanita Singhs Fotografie.